Textstellen

So fern, so nah

Andreas Steffens entdeckt ein Stück Burgund im Bergischen Land: Altenberg und seinen Dom.

Es liegt nahe, keine Stunde Autofahrt entfernt, und doch habe ich es erst entdeckt, als mir die Landschaft, aus der es herstammt, lange vertraut und bedeutend, durch Johan Huizingas „Herbst des Mittelalters“ zur Sehnsucht geworden war, und mir dieses große Requiem auf Burgund die Idee einer Anthropologie der Selbstbehauptung gegen die Wildnisse der Welt vermittelt hatte –: Altenberg ist ein Stück Burgund im Bergischen Land.

Wir haben Glück. Nach einem Sommer, der keiner war, ist dieser Tag, an dem der Herbst beginnt, zum schönsten Sommertag des Jahres geworden. Kräftig, aber nicht mehr gleißend, warm, aber nicht mehr heiß, strahlt die Sonne über wolkenlosem Himmel. Schon gedämpft, doch in seiner Strahlkraft ungebrochen, erfüllt das volle Tageslicht den ‚Bergischen Dom‘. Und vermittelt dem, der es auf sich wirken lässt, eine Ahnung des Sinnes jener ‚Ästhetik des Lichts‘, die die christliche Theologie des frühen Mittelalters begründete, und die Kathedrale dazu bestimmte, materielles Symbol der zweiten Offenbarung des Neuen Testamentes zu sein.

Der Altenberger Dom geht auf eine jener Klostergründungen zurück, mit der die Erzabtei der Zisterzienser im 12. Jahrhundert Europa überzog. Noch heute liegt der Ort versteckt in einem uneinsehbaren Tal, und selbst in der reinen Kulturlandschaft, die es heute umgibt, ist etwas von jener Rauheit und Unwegsamkeit spürbar geblieben, zu der die zweite große monastische Reformbewegung des christlichen Mittelalters sich gemäß der benediktinischen Regel bei der Gründung ihrer Klöster verpflichtete. Im Jahr 1098 in Citeaux in der Nähe von Dijon gegründet, breitete der Orden der Zisterzienser sich unter der Führung Bernhards von Clairvaux (1091-1153) explosionsartig aus. In einem Jahrhundert brachte man es auf nahezu siebenhundert Filiationen. 1133 vollzogen, fällt die Gründung des ersten Altenberger Klosters in die Zeit dieser Blüte. Der Zyklus von Glasfenstern, mit dem die zum Dom erweiterte Altenberger Abteikirche im 15. Jahrhundert ausgestattet wurde, erzählte die Geschichte Bernhards, ihres bedeutendsten Protagonisten.

Burgunds Kultur ist erinnernswert nicht nur, weil es eine reiche, prächtige und schöne Kultur war; mehr noch, weil sie als eine der ersten mit Bewusstsein und Absicht Kultur sein wollte, entstanden aus der Erfahrung der elementaren Unzumutbarkeit des Lebens und der Menschenfeindlichkeit der Welt. In strenger Erneuerung der ursprünglichen Regel der Benediktiner des ‚ora et labora‘ setzen die Zisterzienser ihr die Demut einer tätigen Askese entgegen, deren zivilisatorische Leistungen die geistigen und materiellen Grundlagen für die Rekultivierung Nordeuropas nach den Verwüstungen der Völkerwanderungen legten. Die Arbeit der Klöster trug zur Erneuerung von Landwirtschaft und Handwerk wesentlich bei. Sie enthob sie der allgemeinen Barbarei ihrer Epoche, in der Europa die Errungenschaften der Antike und die Zivilisation des Römischen Imperiums verlor. In den Schreibwerkstätten ihrer Bibliotheken begann die Wiederbelebung dessen, was von deren Schrifttum erhalten geblieben war. Während die Kirche Roms im Bündnis mit Kaisern und Königen die Welt beherrscht, wird sie von den Klöstern aufs Neue kultiviert.

Das 15. Jahrhundert, das die Welt dermaßen wiederzuentdecken beginnt, wie es die Schrecken des Daseins nicht länger einfach nur hinnehmen will, kannte den Menschen noch nicht, der Herr seiner selbst werden will, und aus sich das Wesen macht, das er glaubt, zu sein, indem er sich die Welt unterwirft; aber es kannte die Mittel dazu, die Einbildungskraft, und den Willen, dem Leben Form zu geben. Sie wurden zum Kern der Staatsdoktrin der Herzöge Burgunds. Die Welt wird gut, indem sie schön gemacht wird. Ihm schöne Form zu geben, versöhnt mit der Härte des Lebens. Als Schönes ist es gut. Die Ästhetik der Lebensformung erreicht in Burgund im 15. Jahrhundert ihren ersten Höhepunkt. Die Verbindung der vita contemplativa mit der vita activa, deren Gebot das Klosterleben nach Benedikts Regel bestimmte, liegt aller späteren Kultur zugrunde.

Wir erfahren, wie wir sein sollten, indem wir verstehen, wie jene wurden, die wir nicht mehr sein können, obwohl sie uns hervorbrachten. Vorausgesetzt, dass die Aufgaben ihres und unseres Daseins im Wesentlichen dieselben sind: in einer widerständigen Welt zu leben, die wir gerade deshalb als unsere Welt zu behandeln haben, je weniger sie uns als unsere erscheinen will.

Burgunds ebenso kurze wie reiche Geschichte bietet eines der klarsten Modelle dieser elementaren Kulturaufgabe. Die Menschen, die wir sein sollen und sein können, werden wir nur durch die Leistungen selbstbildnerischer Daseinsformung. Sie bewohnbar zu machen, ‚urbar‘ in jedem Verständnis, ist der Sinn der Welt, den die Unerträglichkeiten, mit denen sie das Dasein des Menschen in ihr belasten, nicht leugnen, sondern im Bewusstsein lebendig werden lassen.

Dass diese Zuversicht begründet sei, davon kündete einst auch das Licht der Kathedralen. In meditativer Sammlung lässt der helle Lichtraum ihrer ‚kleinen Schwester‘ in Altenberg es spüren. Der Glaube, der sie erbauen ließ, begründete die Kultur, deren Erben wir sind, auch, wenn wir selbst ihn nicht mehr haben.

Vita

Andreas Steffens, geboren 1957 in Wuppertal, wo er auch heute noch lebt, ist Philosoph und Schriftsteller. Nach dem Studium der Geschichte und Philosophie in Düsseldorf und Münster war er bis 2005 Privatdozent für Philosophie an der Universität Kassel. Seitdem ist er freier Autor. Neben wissenschaftlicher und publizistischer Arbeit tätig als Galerist und Kurator. Von 1986 bis 1990 Redakteur der „zeitmitschrift. Journal für Ästhetik und Politik“ (Düsseldorf), von 2016 bis 2021 bei „KARUSSELL. Bergische Zeitschrift für Literatatur“, herausgegeben vom Literaturhaus Wuppertal. Von 2017 bis 2019 war er Sprecher des Verbandes deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller (VS) in der Region Bergisches Land. 2009 erhielt er den Kultur-Preis der Springmann-Stiftung (Wuppertal). Er veröffentlichte zahlreiche Bücher, darüber hinaus Studien, Essays, Vorträge und Reden zu Philosophie, Bildender Kunst und Literatur.