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Bonner Loch

David Wagner über einen (Un-)Ort am Bonner Hauptbahnhof, der nicht mehr existiert – und doch irgendwie fehlt.

Das Bonner Loch ist nicht mehr da, fiel mir auf, als ich neulich nicht in Bad Godesberg, sondern in Bonn Hauptbahnhof aus dem Zug stieg und Richtung Innenstadt gehen wollte. Das Bonner Loch, diese sonderbare Öffnung, dieser schlecht beleumundete Schlund, der eine Piazza mit Freilufttheater und ein Zugang in den Untergrund sein sollte – so zumindest die Idee der Stadtplanung der siebziger Jahre – ist zugeschüttet und überbaut worden. Wo sich diese einst gut gemeinte, terrassierte Vertiefung öffnete, steht nun ein Bürogebäude mit sich selbst langweilender Lochfassade; Einzelhandel und Systemgastronomie im Erdgeschoss.

An dem Ort, an dem sich über Jahrzehnte hinweg wunderbar antikapitalistisch herumlungern ließ, fand ich mich umgeben von Five Guys-, Dunkin’ Donuts- und Kentucky Fried Chicken-Franchises – allein eine Filiale der Bäckerei Merzenich erinnerte mich daran, dass ich im Rheinland und nicht in einer Strip Mall in Anatolien oder irgendwo im Mittleren Westen war.

Mich überkam eine große Traurigkeit. Jetzt, wo es nicht mehr da war, vermisste ich das Bonner Loch. Es fehlte mir. Es fehlte mir so sehr, dass ich mir gern ein wenig Heroin gekauft hätte – oder es zumindest versucht hätte, so wie meine Freundin und Klassenkameradin Katja, hier an dieser Stelle, im Jahre 1987. Sie hasste Bonn und den Bonner Hauptbahnhof, ihr Lieblingsbuch hieß, wenig originell, Wir Kinder vom Bahnhof Zoo, sie träumte von Berlin und von Stoff, der sie aus ihrem persönlichen Bonner Loch heraus in andere Sphären befördern sollte. Dummer- oder glücklicherweise fragte sie einen Zivilpolizisten, ob er ihr Schore verkaufen könne. Ihre Drogenkarriere war erst mal aufgeschoben.

Und ich bin wieder in mein eigenes Bonner Loch gefallen, bemerkte ich in der Fußgängerzone, ich stand im Weg, Primark-Tütenträgerinnen mussten mich umkurven. Ungefähr dort, wo Katja und ich Ende der achtziger Jahre herumsaßen, erblickte ich einen Lego-Store. Sollte ich mir vielleicht einen Bausatz schönere Stadt kaufen?

Dass die stadtplanerische Idee der siebziger Jahre, hier einen öffentlichen Platz zu erschaffen, nicht funktioniert hätte, lässt sich nicht behaupten. Im Gegenteil, das Bonner Loch funktionierte irgendwann viel zu gut, seine Freiluftbühne wurde durchgehend mit Drogen- und Obdachlosentheater bespielt. Nicht lange nach der Fertigstellung, im gloriosen Bundesgartenschau-Sommer 1979 hatte das noch anders ausgesehen: Blumenmädchen und adrett gekleidete Bonner Bürgerinnen und Bürger sowie ihre Kinder bevölkerten die Stufen des Lochs; ich erinnere mich, ich war dabei.

Der Name „Bonner Loch“ gefiel mir immer, weil diese einerseits deskriptive, andererseits abfällig gemeinte Architekturmetapher auch das andere, viel größere Loch zu bezeichnen schien, in dem diese Stadt und das ganze Land, für das die Bundeshauptstadt ein Synonym war, steckte.

Ob das Bonner Loch eigentlich ein Mahnmal war? Ein Mahnmal für das, was alles fehlte? Gebaute Abwesenheit? Ein Void? Angesichts der urbanen Trostlosigkeit der Neubauten an seiner Stelle (die vom Investor, wie ich entdeckte, ich musste lachen, unter dem Namen „Urban Soul“ vermarktet werden) erscheint es wünschenswert. Ironischerweise hatte die ursprüngliche Gründerzeitbebauung auf diesem Karree den Krieg fast unversehrt überstanden, sie wurde erst in den fünfziger Jahren abgerissen, um dem Hauptbahnhof zu einem Vorplatz zu verhelfen. So entstand eine städtebauliche Situation.

Es gibt das Bonner Loch nicht mehr. Oder doch? Ich spüre es noch, ich falle immer wieder hinein. Ich muss dazu nicht mal am Hauptbahnhof aussteigen.

Vita

David Wagner, geboren 1971 in Andernach, wuchs im Rheinland auf und studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte in Bonn, Paris und Berlin. Bekannt wurde er durch seinen im Jahr 2000 erschienenen Debütroman Meine nachtblaue Hose, in dem er eine Kindheit im Rheinland der 70er und 80er Jahre schildert. Sein Roman Leben wurde mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2013 sowie dem Best Foreign Novel of the Year Award 2014  der Volksrepublik China ausgezeichnet und ist in fünfzehn Sprachen übersetzt. David Wagner lebt als Schriftsteller in Berlin.