Textstellen

Blaubasalt

Achim Raven über das Holthausen vergangener Tage.

Die Stadt Düsseldorf ist sehr schön. Wer dort wohnt, fühlt sich von der Glücksgöttin verwöhnt. Am Joseph-Beuys-Ufer betreibt sie ein Büdchen. Stadtauswärts wird der Glamour fadenscheinig, und wenn in Holthausen die Walther-Rathenau-Straße endet, hat er sich verflüchtigt. Benannt nach dem ermordeten Reichsaußenminister, trug sie für zwölf Jahre den Namen eines SS-Manns, der sich mit seinem Dienstmotorrad das Genick brach. Da erscheint es makaber, wenn bis heute der Name Adolf mit dieser Straße zweifach verbunden ist. Sed nomen omen non semper est. Der eine Adolf ist Adolf Klarenbach, 1529 im hillije Kölle ad maiorem Dei gloriam als Gotteslästerer verbrannt. Seinen Namen trägt die Schule, Hausnummer 15. In Nummer 13 wohnte der andere Adolf, mit Nachnamen Endler, der 1955 als glühender Jungkommunist in die DDR ging und ein großer Dichter wurde. Später überwarf er sich mit dem Arbeiter- und Bauernstaat und hat als Tarzan vom Prenzlauer Berg dessen Implosion nach Kräften befördert.

Ich war 1955 drei Jahre alt und lebte 150 Meter weiter im Eckhaus Geeststraße 36 mit Eltern und Oma in einer Genossenschaftswohnung samt Nutzgarten und Hühnerpark. Vor dem Gartentörchen war ein Stück Fahrbahn mit Blaubasalt gepflastert, damit die Hochofenschlacke der unbefestigten Geeststraße nicht den guten Asphalt der Walther-Rathenau-Straße anfraß, wo alle Straßen der Welt zusammenliefen.

Die Sommer damals waren immer schön, da klapperte und schepperte es aus offenen Fenstern, Geklirr von Geschirr, Stimmengewirr, Radio. Manchmal schwebten Seifenschaumwolken durch die Luft. Auf der gegenüberliegenden Seite der Geeststraße wuchs der Roggen zwischen drei übrig gebliebenen Bauernklitschen. Durch die Schlaglöcher polterte der Güternah- und -fernverkehr zu den Fabriken. Mächtig pulverte schwarze Asche in die Baumwollgardinen. Oft aber fisselte es, oder es plästerte. Dann schwamm auf den Pfützen regenbogenfarbenes Motoröl. Wenn nachmittags der Trecker mit der Zinkwanne im Schlepp vorüberrumpelte, schwappte zäh der graue Matsch aus den Werkskantinen für die Schweine. Verkochter Kohl, Brikettqualm, Zweitaktabgase und Misthaufen rochen lieblich dagegen. Am schlimmsten aber war der Fettchemiedunst aus der Schaumwolkenfabrik, von dem man Bauchweh kriegte.

Um den Blaubasalt herum wohnten Herren, Frauen und Frolleins. Herr Pesch, Herr Korscheia, Herr Boes, Frau Wackertapp, Frau Diekhans, Frau Buschbach und die beiden Frollein Becker. Geduzt wurden nur Kinder. Die Herren hatten eine eigene Sprache, die Frauen und Frolleins auch. Die Herren sagten Die künne all nimmieh rischtisch ahbidde. Wenn sie ihren Dissens äußerten, sagten sie Ahöddahuppmättämvazäll. Die Frauen und Frolleins sagten. Mah muss sisch dranhalten. Wollten sie ihren Konsens äußern, sagten sie Wolldischjradsaaren.

Geld war knapp, die Wohnung klein, die Nerven dünn. Da waren die Eltern beschäftigt, und die Oma wühlte im Garten oder schlachtete ein Huhn. So konnte ich unbehelligt durch die Wildnis am Ende der Häuserzeile stromern. Die Zweige des kolossalen Holunderbuschs ließen sich mit dem stumpfen Klappmesser zu Flitzebogen und zu Pfeilen verarbeiten. Die flogen gegen klebrige Flaschen, rostige Blechdosen, Eimer mit verschlammter Ölfarbe. Zwischen Soden und Quecken wuchsen Trümmerstauden, Brombeeren, wild gewordene Gartenblumen. Unter dem Grün lauerten Fundamente aus sandigem Schalbeton und zersplitterte Holzdielen. Hier hatten die Holzbaracken gestanden, wo im Teerölmief die Flüschtlinge untergebracht waren, bevor sie in die neuen Flüschtlingshäuser gegenüber der Volksschule umzogen. Die Flüschtlinge waren nach dem Kriesch gekommen. Den Kriesch hatten die Natzis gemacht. Die hatten auch Unsere abgeholt. Das habe ich alles nicht verstanden, ich steckte schicksallos wie der schlafende Säugling in einem Kokon aus Vergangenheit der Zukunft und Zukunft der Vergangenheit.

Das stinkende Lummerland, das Arbeiter- und Bauerngelände mit Bauchweh sind verschwunden, mit ihnen der Blaubasaltstreifen. Inzwischen weiß ich, dass alle Straßen der Welt an jeder Kreuzung zusammenlaufen und dass nirgends dazu gehört, wer von hier kam.

Vita

Achim Raven, geboren 1952 in Düsseldorf, veröffentlicht seit 1984 Lyrik, Prosa und Essays, bis 2015 unter dem Pseudonym Ferdinand Scholz, seither unter seinem richtigen Namen. Auch in der Bildungsarbeit war er lange tätig, unter anderem unterrichtete er von 2001 bis 2010 literarisches Schreiben an der Heinrich-Heine-Universität.