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Besuch ohne Worte

Anna Pia Jordan-Bertinelli über einen Flug nach Setterich in die Emil-Mayrisch-Straße.

Wir nähern uns dem Gebiet im Sinkflug, kreisen über Alsdorf, Mariadorf, Bettendorf, Puffendorf, Siersdorf, Baesweiler und Freialdenhoven. Dazwischen kaum mehr als ein paar Felder und Landstraßen, Überlandleitungen und ein Umspannwerk. Wir ziehen die Kreise enger: ein Aldi, eine Realschule, ein Gartencenter, eine Kirche, ein Friedhof. Alte Häuserblocks aus den 50ern, gebaut für diejenigen, von denen man dachte, sie würden eh wieder gehen, und die trotzdem geblieben sind, mit all den Kämpfen und dem Schmerz, den das Bleiben mit sich bringt.

Wir landen in der Emil-Mayrisch-Straße, auf einem Fenstersims im Erdgeschoss der Hausnummer 47, sehen durch die gehäkelten Gardinen in eine Küche. Der Raum ist still und aufgeräumt, als wäre seit Jahren niemand hier gewesen. Aber auf dem Herd köchelt ein Topf mit Tomatensauce und wir wissen, dass sich im Wandschrank ein Korb mit ein paar Scheiben Brot befinden, eingewickelt in ein frisch gewaschenes Geschirrtuch. Wir wissen auch, was sich im Kühlschrank befindet: ein bisschen Butter, ein bisschen Aufschnitt, ein Frischkäse-Fass Marke Alpenmark, Salat, Möhren, Wasser, Apfelsaft und eine halbe Flasche Zisina. Wir wissen außerdem, dass hinter der Küche eine kleine Wohnung liegt, angenehm groß für zwei, doch gewohnt wurde hier zu fünft. Vom Wohnzimmer aus geht es auf die Terrasse, und ein paar Schritte entfernt liegt eine Gartenparzelle, in der ein Kirschbaum steht und auch eine winzige Hütte mit einem Grill. Und hinter der Hütte war früher Brachland, aber seit ein paar Jahren steht hier eine Neubausiedlung mit Doppelhaushälften.

Wir schauen durch das Küchenfenster und fragen uns, wer das Nudelwasser aufsetzen und die Tomatensauce vom Herd nehmen, den Salat anrichten und den Tisch decken wird. Für wen wird gekocht? Werden Gäste erwartet? Wenn ja, wer wird sie empfangen? Wo sind diejenigen, die hier gewohnt haben, deren Leben zwischen Emil-Mayrisch-Straße und der Grube Emil Mayrisch stattfand? (Emil Mayrisch bekam nie mit, wie beliebt sein Name hier war, er starb schon 1928.)

Wir fliegen zur Bergenhalde, landen auf der Schlacke, die langsam, aber entschlossen vom Grün überwuchert wird. Fragen uns, warum an diesem Ort noch immer gilt, dass es nur eine Sprache geben darf. Warum ein Zusammenleben jenseits des Bekannten nach all den Jahren noch Besorgnis weckt. Könnte man sich ohne Worte begegnen, denken wir. Aber wir sind nur eine Amsel, was wissen wir schon.

Vita

Anna Pia Jordan-Bertinelli wurde in Haan geboren, wuchs in Aachen auf und verbrachte als Kind viele Stunden bei ihren Großeltern in Setterich. Seit 2016 wohnt sie in Köln, wo sie übersetzt (Norwegisch, Englisch), veranstaltet (u.a. das Europäische Literaturfestival Köln-Kalk) und hin und wieder auch schreibt.