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Beinahe das Pferd von hinten aufgezäumt

Hermann Schulz über den Kultursalon „No10“ in Wuppertal-Wichlinghausen.

Es ist eine Straße im Stadtteil Wichlinghausen im Osten Wuppertals, der man noch ansieht, dass sie einmal der Wohn- und Arbeitsort von Bandwirkern, Bäckern, Schlossern und anderen Handwerkern war. Die konnten ihre alltägliche Versorgung noch in ihrem Straßengeviert erledigen. Es gab sogar eine Schneiderei für Kinder-Totenhemdchen.

Heute erinnert wenig an die Kleinindustrie des 19. Jahrhunderts, nur die Schieferhäuser mit ihren geräumigen Hinterhöfen vermitteln etwas von der Geschichte der Nornenstraße. In der inzwischen verkehrsberuhigten Straße spielen und kreischen jetzt Kinder, die nicht mehr von ihren Eltern zu Arbeiten herangezogen werden. Auch die Lebensmittellädchen sind verschwunden. Übrig ist ein „Kiosk“, in dem es auch Schischa-Pfeifen zu kaufen gibt. Die heutigen Bewohner sind ein gemischtes Völkchen mit Wurzeln in vielen verschiedenen Ländern.

Die Theaterpädagogin Anna und ihr Mann Richard, Physikprofessor, beide im Ruhestand, haben in ihrem Haus Nornenstraße 10 einen Kultursalon eröffnet. In ihrer Wohnküche, dem ehemaligen Bandwirkershed, wollen sie lockere und anspruchsvolle Darbietungen von Literatur und anderen Künsten anbieten. Für Menschen mit unterschiedlichen Interessen.

Sie hatten eine Menge eigener Ideen, überlegten aber, Persönlichkeiten der Stadt, Autoren und große Geister in die Planungen einzubeziehen, um ihr Projekt zu beleben.

„Du kannst doch nicht Hinz und Kunz einladen, nur weil sie mal einen Artikel geschrieben haben!“, gab Anna zu bedenken. „Außerdem passen nicht mehr als drei Dutzend Leute in unsere Bude!“
„Keine Sorge!“, versuchte Richard sie zu beruhigen. „Wir verteilen sie auf mehrere Tage, jeden Nachmittag ein oder zwei.  Am liebsten würde ich Else Lasker-Schüler einladen. Und zugleich Will Vesper.“ Auf solche Weise alberten sie herum.
„Stammte Vesper, der alte Nazi, denn von hier?“, fragte Anna. Richarde# nickte. Dann lachte sie: „Wenn jemand den Buchtitel ‚Das harte Geschlecht‘ erwähnt, gibt es allgemeines Gelächter. Nun schreib mal einen Zettel, wer noch infrage kommt.“
„Auf jeden Fall den Autor von Siebenschläfer, den alten Mühl“, murmelte Richard. „Und dann Michael Zeller, Beatrix Burghoff, Peter Hohberger, Falk Andreas Funke. Wen noch?“
„Vielleicht Lucas Greiner?“
„Den Arzt? Was hat der mit Kultur zu tun?“
„Unbedingt Christiane Gibiec,“ schlug Anna vor. „Wir haben zu wenig Frauen auf der Liste. Jedenfalls Dorothea Müller und Anne Linsel.“
„Anne schreibt nur Sachbücher“, gab Richard zu bedenken.
„Das ist doch egal, sie versteht eine Menge von Literatur und kennt alle Welt!“

Dann schwiegen Anna und Richard einige Minuten. Er stand auf, ging in den Küchentrakt, um Kaffee aufzusetzen. Eine seltsame Unzufriedenheit stand wie dicke Luft im Raum. Von der Straße hörten sie Kindergeschrei. Als Richard sich wieder gesetzt hatte, sah ihn Anna konzentriert an und sagte mit gerunzelter Stirn:
„Ziemlich langweilig, was wir da vorhaben. Viel zu abgehoben und theoretisch!“ Nachdenkliche Pause. „Guck dich mal um in unserer Straße! Wie wäre es, wenn wir mit Lesungen für die Kinder anfangen, in Hinterhöfen und hier bei uns. Dann kommen die Eltern mit und finden vielleicht Gefallen an unserem Projekt. Geschichten zum Vorlesen gibt es genug! Dazu befragen wir auch die Kinder und lernen unsere neuen Nachbarn besser kennen!“
„Genial! Beinahe hätten wir das Pferd von hinten aufgezäumt.“ Richard stand auf, küsste seine Frau auf die Wange und verbannte den Zettel mit den Namen, die er aufgezeichnet hatte, in einem Aktenordner. „Die kommen später dran“, murmelte er.

Vita

Hermann Schulz, geboren 1938 in Ostafrika, lebt als Verlagsleiter und Autor seit 1960 in Wuppertal.