Textstellen

Am kalten Bach, im tiefen Tal

Lothar Kittstein über Simonskall in der Eifel.

Wir liegen in dem Hürtgenwald
Wir liegen in dem tiefen Tal dem Nebeltal
Wir liegen in dem Wolkental
Wir liegen schweigend in dem Wald

Der Bach fließt durch das Schiefergrau
Der Wald aus grauem Stein
Der Wald im Pulverdung
Im Wolkendampf
Die namenlosen Kreuze aus dem Nebelstein

Wir liegen in dem Hürtgenwald im Tal
Wir denken immer an die Wilde Sau
Wir gingen durch die Wilde Sau
Wir krochen durch die Minen
Hören, wie der Grieche oben an der Bundesstraße bunte Fähnchen hängt
Wir riechen neuen Teer
Wir riechen Schweiß von Fahrradfahrern
Und wir hören, wie die Sonne auf den Autos blinkt
Die Luft tut gut im Hürtgenwald, der Krieg
ist längst vorbei, die Mädchen strahlen
Die Bedienung bei dem Griechen schreibt nicht gern, das macht ihr Mühe
Rechnet ungern, rechnet rund und runder

Über uns im Hürtgenwald, weit
über uns steht eine Venus an der Bundesstraße, die von Milo, zweimal
steht sie bei dem Griechen und streckt ihren Armstumpf in die Luft
Der Hürtgenwald steckt seine Stümpfe in die Luft
Wir strecken unsere Stümpfe in die Luft
Die namenlosen Stümpfe aus dem Nebelstein
die Fahrradfahrer richten ihre Strümpfe

Unsere eisernen Kreuze liegen im Wald,
und die eisernen Lenker jagen sich bald,
Und wir singen leise im Moos,
denn hier ist was los,
Wir singen unter den Blättern,
hier klettern
und singen: Schön ist der Hürtgenwald, lass noch ein‘ heben
denn weit ist das Land, und schön ist das Leben
Wir hören die Busse, die Räder, die rollen
die Vögel, die brummen aus Eisen
über dem Bach, es ist kalt
Hier unten im Wald
Und schattig im Tal, immer schattig
im Tal und ist kaum
ein Zimmer
noch frei in dem Sommer, der Parkplatz ist voll, den seh‘n wir
von unten, immer
so warm, wenn am Mittag die Sonne hoch steht über dem Tal

Wir liegen in dem Hürtgenwald
unter der warmen Decke aus Asphalt
Wir drehen uns im Grabe langsam um und machen
Bodenwellen
für die Fahrradfahrer
tief im Hürtgenwald, das ist kein Grab
in den Lüften, im Tale
ist‘s eng, und die deutschen Füße aus Schiefer
schauen heraus an dem Hang, und das deutsche Haar, das
blonde hängt uns am anderen Ende
grünlich zerzaust in die leise flatternde Kall
in der Luft ein leise knatternder Knall
von früher, der Schall
der niemals entkommt aus dem Tal

Und über uns die Brücke
trägt noch die Plakette
die sagt: Kameraden!
Die Sonne steigt im August langsam tiefer
über den Schiefer
bleibt im September auf dem Rücken
des Hürtgenwalds liegen
die Mücken verstummen
die Busse versiegen
Wir rühren uns in dem Oktober nicht, still ist es
im Novemberdorf
Und wenn in der Dezembernacht das neue Jahr
durchs Tal schleicht
gehen wir leise herum
und sehen das neue Hotel
und legen den moosigen Rücken dort in die Betten so weiß
und nicht für uns
und treten mit hölzernen Füßen dort auf den Teppich so weich
nicht für uns
und tasten mit steinernen Fingern über das Porzellan so reich
das in den Schränken
das Frühjahr erwartet
und nicht uns

Wir haben Hürtgenwald gebucht
ein kaltes Zimmer
für immer
Wir haben uns diesen Urlaub redlich verdient
in dem Zimmer
für immer
am Bach
der tiefen, kalten Stelle
für immer

Vita

Lothar Kittstein, geboren 1970 in Trier, lebt und arbeitet seit 1991 in Bonn. Er schreibt Theatertexte und Kurzprosa. Familiär in Koblenz und Bonn verwurzelt, fühlt er sich dem Rheinland und der Eifel, ihrer Geschichte und Landschaft tief verbunden. Den Hürtgenwald lernte er 2019 anlässlich eines Schreibworkshops kennen, und die Bilder der riesigen Soldatenfriedhöfe lassen ihn seither nicht mehr los.