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Als wir (fast) den chinesischen Botschafter trafen

Judith Merchant über das chinesische Restaurantschiff „Ocean Paradise“ in Bonn-Beuel.

Es war eine glückliche Fügung, dass wir gleich am zweiten Tag unserer Europa-Rundreise in Bonn auf den chinesischen Botschafter trafen. Wobei – wir trafen ihn nicht wirklich. Nur fast. Immerhin reichte es für ein Foto des Botschaftsgebäudes.Die Botschaft war ein wahrer Prachtbau. Ein holzverkleideter Palast mit roten und goldenen Pagoden-Elementen, der gemütlich direkt vor der Kennedy-Brücke auf dem Rhein schaukelte, sicher vertäut vor einem großen Ausflugslokal mit sonnenbeschienener Außenterrasse.

„Wir haben ihn ganz knapp verpasst, Schatz!“

„Wen?“

„Den chinesischen Botschafter! Das hier ist die chinesische Botschaft. Vor etwa zehn Minuten ist er von Bord gegangen. Wahnsinn! Tja, in einer Hauptstadt trifft man eben mal rein zufällig den Botschafter von China.“

„In einer ehemaligen Hauptstadt.“

„Stimmt. Aber einige Botschaften sind ja geblieben. Kein Wunder, oder? Ich wäre auch geblieben, so eine herrliche Aussicht! All seine Kinder gehen hier zur Schule und fühlen sich sehr wohl, da zieht man doch nicht einfach nach Berlin.“

„ALLE seine Kinder? Hat der chinesische Botschafter denn so viele Kinder?“

„Anscheinend ja. Wenn das Wetter schön ist, machen sie morgens immer mit der ganzen Familie an Deck Tai-Chi.“

„Das Wetter IST heute schön. Warum machen sie heute nicht Tai-Chi?“

„Das weiß ich auch nicht. Das hat der junge Mann nicht erzählt.“

„Welcher junge Mann?“

„Na, der, der mir das von dem chinesischen Botschafter erzählt hat. Er sitzt da mit seinen Leuten auf der Wiese, unter den Platanen. Sie trinken Bier, die sind ja sehr gemütlich hier, die Menschen. Guck, er winkt uns! Wink mal zurück!“

„Sympathischer Typ. Wann hat er dir das denn alles erzählt?“

„Eben, als du auf Toilette warst, hat er mich angesprochen. Er hat gefragt, ob er ein Foto von mir vor der chinesischen Botschaft machen soll. Sonst wüsste ich das doch gar nicht!“

„Das ist ja nett von ihm!“

„Ja, fand ich auch. Diese Bonner sind wirklich so kontaktfreudig, wie man ihnen nachsagt.“

„Sag - was hängt denn da für eine Fahne am Schiff?“

„Wahrscheinlich die chinesische Flagge.“

„Nein, das meine ich nicht. Irgendwas mit Kölsch. Oder?“

„Hm.“

„Haben die da was mit Kölsch stehen? Komisch. Und daneben was mit Buffet. Sieht irgendwie aus wie bei einem Chinarestaurant.“

„Wahrscheinlich gehört das hier zu den Gepflogenheiten. Ein Scherz. Wegen Karneval, das wird hier doch groß gefeiert. Find ich toll, dass der chinesische Botschafter solche einheimischen Späße mitmacht!“

„Ja. Er muss ein bemerkenswerter Mann sein. Wie schade, dass wir ihn verpasst haben!“

Vita

Judith Merchant wurde in Bonn geboren. Sie studierte Literaturwissenschaft und zog nach Königswinter, wo sie mit dem Schreiben von Krimis begann. Inzwischen lebt sie wieder in Bonn und unterrichtet dort an der Uni Creative Writing.