Textstellen

Als die Schmuddel­kinder Rheinblick hatten

Jens Prüss über das Aufwachsen in Düsseldorf-Oberkassel.

Die erste Begegnung mit einem Düsseldorfer war ziemlich ruppig. Als ich nach dem Umzug von Essen nach Oberkassel einen ersten Zug über die prärieähnliche Rheinwiese machte, pöbelte mich gleich ein großer Junge an. Ich solle abhauen, die Wiese wäre sein Gebiet. Keine Ahnung, woher ich den Mut nahm, er war nämlich in Begleitung eines zweiten Jungen, aber ich schubste ihn so heftig, dass er in eine Regenpfütze fiel. Danach wurden wir Freunde.

Es sind diese frühen Erinnerungen, die eine Stadt so heimelig machen. Wobei nicht alles, was wir anstellten, schmeichelhaft ist. Wenn ich die Schafe auf dem Rheindamm grasen sehe, fällt mir eine eher eklige Mutprobe ein. Ich musste in den Blecheimer eines Schäfers pinkeln, in dem ein großer Batzen Fleisch lag. Vermutlich Teile eines geschlachteten Schafes. Noch heute hoffe ich, dass das Fleisch für die Hirtenhunde war. Oder wir tauchten unter die Plane eines Pfadfinderzeltes, das in der Nähe der Jugendherberge am Oberkasseler Ufer stand. Mit den geklauten Schnitzmessern, die wir bei den Schlafsäcken fanden, spielten wir Winnetou und Old Shatterhand. Wir bauten fragile Höhlen in den sandigen Untergrund des Rheinstrandes und schafften es schwarz in den Zirkus Krone. Durch ein Loch im Zaun kamen wir bei den Tierkäfigen raus. Den scharfen Geruch der Raubkatzen habe ich noch heute in der Nase.

In den frühen 60ern wohnten die Rabauken, mit denen ich spielte, gleich am Kaiser-Wilhelm-Ring. Heute nicht vorstellbar. Aber damals waren die schmucken Häuser aus der Gründerzeit ziemlich heruntergekommen. Die Oberstadt hatte den Fluss noch nicht für sich entdeckt. Die Platanenallee war fest in der Hand der Schmuddelkinder. Es gab mehre Banden, die das Terrain zwischen Oberkasseler Brücke und Jugendherberge unter sich aufgeteilt hatten. Einer dieser Jungs spielte immer auf der Straße und rief sofort die anderen Mitglieder zusammen, wenn der Eindringling nicht gleich Fersengeld gab. „Schlüsselkinder“ nannte sie meine Mutter etwas abfällig. Und in der Tat, als ich meinen Freund mal zu Hause besuchte, war er mutterseelenallein in der Wohnung. Ich beneidete ihn für diese Freiheit. Er hatte auch keinen Vater, der abends die Hausaufgaben kontrollierte, dieser Glückspilz. Wolfgang, ich glaub‘, so hieß er, war nicht nur freier, sondern auch kühner als ich. Bei meinem Besuch zeigte er eines seiner Kunststücke. Unvermittelt öffnete er ein Fenster der Dachwohnung und hängte sich raus, nur mit den Händen hing er am Fensterkreuz im vierten Stock. Ich glaube, ich habe geschrien vor Angst. Wolfgang aber wand sich katzenhaft wieder hoch und lachte mich aus. Er gehörte auch zu denen, die im Winter auf Eisschollen surften. Ja, solche Spiele und solche Winter gab es damals.

Die Kinder, die heute am Kaiser-Wilhelm-Ring wohnen, machen keine Klimmzüge mehr an den Ästen der Platanen. Sie gucken aus den Fenstern riesiger Autos und werden durch die Welt kutschiert. Ob sie noch Flausen im Kopf haben? Wolfgang hätte garantiert unter einem der hochbeinigen SUVs ein Lagerfeuer gemacht. 

Vita

Jens Prüss lebt seit seinem 7. Lebensjahr in Düsseldorf. Gern nimmt der Autor rheinische Sujets auf. Sein erstes Kabarettprogramm heißt Der mit dem Löwensenf, zu Wort kommt der politische Heinrich Heine. In Köln vs. Düsseldorf geht er humorig dem Städtestreit auf den Grund. In Der Köbes recherchiert er die Ursprünge eines rheinischen Originals. Und manchmal beschreibt er auch nur aus der Sicht eines Flaneurs.