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Kolumne

"Verhältnisse in Bewegung bringen"

Illustration von Nadine Redlich
Nadine Redlich

Unsere Kolumnistin Simone Scharbert schafft angesichts der Kommunalwahlen in NRW Raum fürs Denken.

– von Simone Scharbert

Bildrechte: Nadine Redlich

Hier schreiben im Wechsel Autor:innen aus dem Rheinland über Sätze, die ihnen hängengeblieben sind. Heute: Simone Scharbert.

Verhältnisse in Bewegung bringen

lese ich dieser Tage bei Barbara Köhler, vielmehr lese ich die Worte in ihrem Essay, Raum geben, so der Titel, und aus unterschiedlichen Gründen bleibe ich direkt an diesen beiden Wörtern zu Beginn hängen, wünsche mir für so vieles ja mehr Raum dieser Tage, verweile also kurz, einem Auftakt gleich, hin zu ihrem Gedankenexperiment, für und zu Yoko Tawada, so der Untertitel, und wandere dann weiter im Text, folge ihr, ihrem Schreiben, diesem Auffächern einzelner Gedanken, entlang all ihrer Fäden und Schnüre, die sie aus ihren Texten hinein in unbekannte Verflechtungen und Verwebungen legt, oft aus der Antike ins Akut unserer Tage, gleichsam ein Neuordnen von bereits Bekanntem, ein Aufbrechen des Bestehenden, ein mich immer wieder staunend machender Blick auf Welt, ein nahezu stoisch wachsender Teppich an Möglichkeiten der Verortungen und 

Beweglichkeit.

„ Mit solchen Fragen kehre ich immer wieder in das Schreiben von Barbara Köhler ein “

Verhältnisse in Bewegung bringen, lese ich auch im Jetzt, und dieses Jetzt ist erst noch an einem Abend im tiefen Bayern, meiner alten Heimat, zwei Tage vor der Kommunalwahl 2025 in Nordrhein-Westfalen, meiner neuen Heimat, in einer Zeit, in der so viel von Verhältnissen die Rede ist, vielmehr von den Verhältnissen, in denen manche Menschen leben, oder von denen die einen über die anderen denken, dass sie in diesen Verhältnissen leben, ohne es aber genau zu wissen. Nicht zuletzt ist hier und da auch zu hören, dass wir seit Jahren über unseren Verhältnissen leben, wobei nicht deutlich wird, von welchem wir die Rede ist, wer spricht und wer das Maß für die jeweiligen Verhältnisse festlegen darf.

Mit solchen Fragen kehre ich immer wieder in das Schreiben von Barbara Köhler ein, genauer: in ihre Satzfolgen, in denen ein Subjekt den Raum betritt, ganz in Ruhe, einfach dort stehen darf, Raum bekommt. Ich stehe in einem Raum. Vor allem: gesehen wird. Präzise ist ihr Schreiben, in diesem transparenten Schritt-für-Schritt-Denken, das sein Subjekt ernst nimmt, in jeglicher Hinsicht. Auch und gerade mit Blick auf die noch zu klärenden Verhältnisse.

Ermessen ließen sich diese, so Barbara Köhler. Auf unterschiedlichste Weise: mit Blicken, den Händen, je nachdem, was das einzelne Subjekt gerade so macht, ob es aus dem Haus hinausgeht, sich ins Verhältnis zu Innen- und Außen- und Nebenräumen bringt, die Umgebung also wahrnimmt. All das: am Ende aber immer mittels Sprache. Sie schreibt:

Das Subjekt differenziert seine Wahrnehmungen vergleichsweise, stellt Einzelheiten fest, Eigenheiten des Einen im Vergleich zu anderen, vielen, zwischen Plural und Singular,

kurzum das Subjekt, ein Ich oder ein Du, bringt sich meistens in ein Verhältnis zur Umwelt, es verhält sich also, es nutzt Artikel und Possessiv-Pronomen, so werden wir sprachsozialisiert, aus einem Haus wird etwa mein Haus, (wenn wir denn eines haben, oder: wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr), es teilt die Welt in Besitz und Nicht-Besitz, der Grund also schiebt sich ins Denken, da sind also wieder die Verhältnisse, genauer: Die Besitz-Verhältnisse.

„ Raum fürs Denken, für einen Sprachfluss “

Und was wäre also, wenn wir Verhältnisse als Begriff im Allgemeinen hinterfragen, unser Denken, unsere Sprache auf einen anderen Grund stellen würden, einen Grund aus Freundlichkeit etwa, wie es bei Brecht heißt, Ach, wir, die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit, konnten selber nicht freundlich sein, oder den Grund als fließend begreifen würden, frei von diesen immerwährenden grammatikalischen Zuordnungen und Identifikationen eines der die das, (wer und wie genau Mensch zu sein hat), oder mein dein sein, ein Grund also, der das Singuläre nicht für absolut nimmt, Raum gibt für Neues, zugunsten Differenz und Anderssein, überhaupt Raum schafft fürs Denken, für einen Sprachfluss, hin zu eben diesem Anderen, einem du, wer auch immer das sein mag, oder wie es bei Celan heißt, (mit Blick auf die Möglichkeit von Gedichten,) 

sie halten auf etwas zu, und weiter, auf etwas Offenstehendes, Besetzbares, auf ein ansprechbares Du vielleicht.

Und da sind wir also wieder bei den Verhältnissen, bei der Notwendigkeit, Raum zu geben, Lücken zu schaffen, einen beweglichen Grund im Denken, und wünsche uns also, von Herzen, mittlerweile am Tag der Kommunalwahl angekommen, uns allen, mit Blick auf alles Kommende, in den Worten von Barbara Köhler:

… einen doppelten Tanzboden, Resonanzboden, als Raum, in dem sich die Wörter, die Dinge zum Schwingen, zum Klingen bringen lassen, Verhältnisse zum Tanzen bewegen.

Simone Scharbert lebt und arbeitet als freie Autorin und Dozentin in Erftstadt. Zuletzt erschien "Für Anna. Eine Belichtung" als Teil ihres Projekts des Sichtbarmachens weiblicher Biographien.