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Kolumne

„Alles ist Kontext, für immer.“

Illustration von Nadine Redlich
Nadine Redlich

Unsere Kolumnistin Emily Marie Lara sieht das mal im Kontext. Es ist kompliziert.

– von Emily Marie Lara

Bildrechte: Nadine Redlich

Hier schreiben im Wechsel Autor:innen aus dem Rheinland über Sätze, die ihnen hängengeblieben sind. Heute: Emily Marie Lara.

Ein junger New Yorker Content Creator bekommt im Monat fünf Euro von mir, damit ich in seinen Subscriber-Only-Videos sehen kann, warum Gwen Stefanie Werbung für erzkonservative Apps macht und in den USA als rechtsradikal gilt. Fünf Euro, das sind zehn Mark, das waren mal zehn Wochen Taschengeld. Weil er schon länger nichts Neues mehr hochgeladen hat, klicke ich sein Archiv alter Folgen durch, man will ja was sehen für sein Geld. Als Reaktion auf den Wahlsieg der Republikaner sprach er über - ach, da habe ich kaum noch zugehört, weil sie damals im November alle das gleiche gesagt haben. Doch mein für zehn Mark geleaster Online-Freund kicherte und sagte über die Kommunikationsstrategie der Linken: „Well, you gotta love them, everything is context, forever“ 

„ Wir stoßen lässig an und reden bewusst nicht darüber, wie außergewöhnlich der Moment ist “

Es ist wahr, alles ist Kontext, für immer. Kontext ist der Beleg der Ernsthaftigkeit, der Analyse, des Akademiker:innentums. Kontext taucht im Fließtext des Dorsch-Lexikons der Psychologie  auf: „Kontext [engl. context; lat. contextus verflochten], [KOG], umgebende Umstände, die zur Bedeutung eines Ereignisses oder einer Mitteilung beitragen.“ Kontext zeigt Komplexität auf, oder ist das falsch herum gedacht?

Am Abend gehe ich mit Freunden ins Theater, es wird süßer Foyerwein getrunken. Nichts besonderes, durchschnittlich werden in Deutschland 180 Stücke pro Tag aufgeführt und wir -  schau, alle in Jeans und Sneakern - sind so kultiviert, dass man sich nicht mal mehr schick macht für ein Event, business casual as usual hier. Wir stoßen lässig an und reden bewusst nicht darüber, wie außergewöhnlich der Moment ist: alle haben Zeit, Babysitter wurden organisiert, nebeneinander liegende Sitzplätze gesucht und gefunden, Paypal-Adressen ausgetauscht. Es ist dieser Kontext, der das locker weggepackte Ticket in meiner Hosentasche in ein Artefakt verwandelt, das ich mir an den Kühlschrank hängen werde. Die Glocke klingelt. Das Stück beginnt, durchläuft seine fünf Akte und es endet. In dem Moment der Stille vor dem Applaus passiert etwas Unerwartetes: Kontext kommt auf die Bühne, stellt sich vor die Schauspielerin, ein beinahe durchsichtiger Vorhang aus Nylon wird zwischen ihnen herabgelassen. Ein schöner visueller Kniff, man erkennt noch, was passiert, aber das Geschehen flirrt und rückt aus der Greifbarkeit. Kontext räuspert sich und sagt: „Ja, das war alles schön und gut aber man muss das auch mal im strukturellen Gesamtzusammenhang förderaler Theaterförderungssysteme sehen.“ 

„ Kontext hat immer Recht “

Am Morgen nach dem Theaterabend stehe ich bei der Arbeit im Aufzug. Der Satz hängt mir noch im Kopf, als ich mir für die Gremiensitzung einen Sitzplatz suche. Es ist der Monat mit den vielen Feiertagen, wir sind also dünn besetzt, aber Kontext ist da und meldet sich zu jedem einzelnen TOP: „Das ist historisch so gewachsen.“ -  „Da dürfen wir es uns jetzt nicht zu einfach machen.“ - „Das Ziel ist es, auf Grundlage der Nutzungsanalyse eine Haltung zu entwickeln.“  

Im Kontext betrachtet ist es unmöglich, eine Entscheidung zu treffen, die das Gremium, die einzelnen Bereichsleitungen, der Betriebsrat und der Verwaltungsrat mittragen würden. Kontext, der Leistungsträger in dieser Runde, greift in einer Sprechpause nach einem schwitzigen Brötchen. Kontext hat immer Recht, deswegen sagt auch niemand: „Kontext ist strukturierte Verantwortungslosigkeit“, aus Sorge, polemisch oder unüberlegt zu wirken.

Im Aufzug nach unten frage ich mich, ob mein Content-Kontext-Freund schon etwas Neues hochgeladen hat. Sein Video über die US-Wahlen ist Monate alt und man muss es in seinem Kontext sehen, nämlich dem Video von Kamala Harris, die kicherte und dann mit heiserer Stimme flüsterte „you exist in the context of all in which you live and what came before you.“ Macht es euch nicht zu einfach, wollte sie damit vermutlich sagen. Denkt nicht, dass ihr die Welt dauernd neu erfindet oder erfinden müsstet. Nehmt ernst, was vor euch und rund um euch passiert. Aber wenn man sie ernst nimmt, bleibt unter dieser schweren Kontextdecke kaum Luft zum atmen, denn dann muss man die Zeit seit ihrer Niederlage in dem Kontext sehen, dass auch unter Obama und Biden Menschen brutal abgeschoben wurden und dass der zunehmende Überwachungskapitalismus und Social Media-Algorithmen gar kein anderes Wahlergebnis zugelassen hätten. Und wer sind wir in der EU überhaupt über Abweisung Hilfsbedürftiger zu urteilen oder moralische Empörung über IRGENDETWAS zu äußern. Dann muss man all diesen Kontext über die Tinnitusartig sirrende Verzweiflung hinwegziehen lassen und sich ein belegtes Brötchen nehmen und hoffen, dass morgen ein neuer Tag ist, an dem jemand diesen Clusterfuck aus selbstlähmenden Kontext aufbrechen könnte. Der Aufzug pingt, eine beruhigende Stimme flüstert aus dem Lautsprecher: 

„Es ist nichts als Schmerz, sagt die Angst.“

„Es ist was es ist,“ sagt Erich Fried.

„Es ist komplizierter als das,“ sagt der Kontext. 

Emily Marie Lara ist Autorin und lebt in NRW. Im März 2025 erschien ihr Debütroman "Nowhere Heart Land" (pola).