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Buchempfehlung

»Grand Mal, großes Malheur, große Scheiße«

Torsten Krug mit Buch
privat

Torsten Krug liest bei Wolfgang Suchner, wie man Krankheit und Leben verbindet – mit den Mitteln der Kunst.

– von Torsten Krug

Bildrechte: privat

In Deutschland kommen jedes Jahr mehr als zehntausend Neuerscheinungen auf den Markt. Wer kann da noch den Überblick behalten? Wir! Einmal im Monat empfehlen Literaturkenner:innen und Vielleser:innen aus unserem Netzwerk ein Buch, das sich lohnt. Warum? Das beantwortet der Fragebogen.

Im Dezember liest Torsten Krug, freier Regisseur und Autor in Wuppertal, Wolfgang fällt um. Das Loch in der Zeit von Wolfgang Suchner und Hans Werner Otto

Worum geht’s?

Wolfgang Suchner ist freischaffender Künstler, Trompeter, Regisseur und seit 1999 Teil des legendären Dada-Musiktheaters »theatre du pain«. Und er ist Epileptiker. Wie geht beides zusammen? Wie lebt es sich mit der ständigen Gefährdung, diesem möglichen »Loch in der Zeit« – im Leben und auf der Bühne? »Grand Mal, großes Malheur, große Scheiße«. Aus einer bemerkenswerten Zusammenarbeit und Freundschaft zwischen Wolfgang Suchner und dem Autoren Hans Werner Otto ist ein anrührendes, bisweilen urkomisches Dokument entstanden, das weit über das Autobiographische hinausweist und viel über die Kulturszene der letzten dreißig Jahre in Deutschland erzählt.

Worum geht’s wirklich?

Kunst und Krankheit haben eine lange gemeinsame Geschichte. Kunst und Heilung auch. Was »ver-rückt« ist, was normal, spiegeln Kunst und Kultur stets neu und stellen es in Frage. Auch von dieser Beziehung sowie von der Begegnung des Künstlers mit der medizinischen Welt handelt »Wolfgang fällt um«, dessen klare und schöne Prosa durch kurze medizinische Referate ergänzt wird. Ist Wolfgang ein anderer Patient dadurch, dass er Künstler ist? Ist er ein anderer Künstler dadurch, dass er Epileptiker ist? Kann er noch Künstler bleiben? Viele raten Wolfgang nach seiner Diagnose ab, jemals wieder Trompete zu spielen. Der Druck dabei im Kopf sei einfach zu groß. Doch genau die Entscheidung für die Trompete, für die Bühne, die freischaffende Kunst wird seine Rettung. 

Was hat dich beim Lesen überrascht?

Bei Auftritten des »theatre du pain« kommt es zum Unvermeidlichen: Wolfgang bekommt Anfälle auf offener Bühne. Keinen Grand Mal, aber Aussetzer, manchmal spielt das Sprachzentrum verrückt und liefert unzusammenhängende sprachliche Äußerungen. Seine beiden Kollegen entschieden sich blitzschnell, das Programm nicht zu unterbrechen, sondern auf ihre Weise darauf zu reagieren. Das Publikum genießt hinreißendes absurdes Theater, wie es das von der Gruppe kennt und bemerkt die »Fehlleistung« gar nicht. Das hat mich künstlerisch wie menschlich beeindruckt und ist wunderbar erzählt.

Welches Zitat würdest du dir an den Kühlschrank pinnen?

»Er hätte doch Meditieren lernen sollen, denkt er (…) Im Meditieren das Nichts kennenlernen, aus dem wir kommen und in das wir alle eines Tages wieder hineinrutschen werden, dieses Nichts im Jetzt schon spüren. Etwas, das er als Ahnung, als Verdacht auch vor seinen Absencen immer mal wieder wahrnimmt, die Aura mit diesem Gefühl von Weite, unermesslicher Weite, die die Grenzen des eigenen Körpers mitsamt Kopf überschreitet.«

Welchen Titel hättest du dem Buch gegeben?

Genau diesen.

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Alle Menschen sollten dieses Buch lesen, weil …

… es zutiefst menschlich ist, humorvoll, weise und lehrreich.

… es Krankheit und Leben verbindet mit den Mitteln der Kunst.


Das Buch:
Wolfgang Suchner, Hans Werner Otto: Wolfgang fällt um. Das Loch in der Zeit
Bremen 2024
271 Seiten