Magazin

Kolumne

„…damit die Geschichte sich nicht wiederholt!“

Illustration von Nadine Redlich
Nadine Redlich

Unser Kolumnist Dominik Dombrowski über eine Seele, die ihr eigenes Ding macht.

– von Ulrike Anna Bleier

Bildrechte: Nadine Redlich

Hier schreiben im Wechsel Autor:innen aus dem Rheinland über Sätze, die ihnen hängengeblieben sind. Heute: Dominik Dombrowski

Die Entfaltung

Das ganze Leben veränderte sich an einem Nachmittag im Aldi Süd,

als ein Schraubglasturm 

voller schwarzer Oliven ihm entgegenfiel

und er einem Kassierer half, 

die fettigen Scherben aufzupicken, 

bis sie ihm an den bloßen Fingern klebten, 

nachdem es ihm doch über den Tag noch 

gelungen schien, keinen Stein ins Rollen zu bringen,

er jetzt doch nicht mehr ahnen konnte, welchen 

Stein er nun gerade hier ins Rollen gebracht hatte,

in diesem Moment der fallenden Gläser

aus dem Regal, die auf seinen schwarzen Schuhen zerschellten,

weshalb er den Bus verpasste

und zu Fuß nach Hause ging,

in dieser schönen blauen Stunde Ende September, 

und die Straßen immer dörflicher und leerer wurden

und vor einem Garagentor eine alte schamanische Katze schlief

im Schatten einer rostigen Hortensie. 

„ Sie bildeten eine groteske Gemeinschaft / die Schnecken und er “

Er blieb stehen, kramte seinen Tabak hervor und verlor sich

im Schlaf des Tiers. 

Dann ging er weiter, zufrieden im Rauch

der Zigarette, immer weiter und stieß plötzlich auf

zwei dunkle Schnecken am Ende der Straße,

deren schwarze Häuschen sie behüteten

vor der Geschwindigkeit. Königliche,

glitzernde, schleimige, winzige Wesen, wie versehentlich

verdoppelt, und Weißgottwem aus einer Murmelbox gekullert.


 

Ihr lebt gefährlich, murmelte er vor sich hin, und ging

weiter, ging immer weiter und noch ein paar Schritte weiter

und dann blieb er, berührt 

von Weißgottwas, abrupt stehen und machte kehrt,

weil seine Seele, wie er vermutete,

jetzt immer öfter ihr eigenes Ding machte,

indem sie das Zufallende erlauschte

zog sie ihn zu den Schneckenhäusern zurück.

 

Er klopfte solange an beide Häuschen, bis sie sich vom Asphalt lösen ließen,

pflückte sie von der verlassenen Straße, in jeder Hand eines,

zwischen Zeigefinger und Daumen, die Zigarette

klebte ihm im Mundwinkel, der schwarze, schwere Rucksack

auf seinem Rücken zog ihn runter.

Sie bildeten eine groteske Gemeinschaft, 

die Schnecken und er, ein Mobile im Windspiel,

in dem er einer lebensgroßen Marionette glich,

in der Pose eines Marionettenspielers - wer auch immer hier

die Fäden in der Hand hielt - balancierte er mit den Schnecken

den eben begangenen Weg wieder zurück

und dann darüber hinaus, wo er eine Baulücke fand,

ein kleines gräsernes Feld,

markiert von ein paar fußballgroßen, weißen Steinen,

dort platzierte er die zwei Tiere hin,

etwas in den Schatten

zwischen Stein und Rasen

an eine günstige  Stelle und bekam

die nasse Zigarette endlich aus dem Mund. 


 

Macht was draus! murmelte er zufrieden mit sich, drehte sich um

und erblickte im gleichen Augenblick einen alten

weißen Ford Transit

mit verblasster Aufschrift an der Tür: ORDNUNGSAMT,

gesteuert von einer Uniformierten mähte er 

durch die Stille, der Transit, die Straße hinauf,

nicht besonders schnell, aber stetig, und er

erkannte sofort, dass die beiden rechten Reifen exakt

beide Schnecken getroffen haben würden: KRACK, KRACK.  

Er hörte dieses Krachen regelrecht.

 

Aber es war ein Krachen, das es jetzt nicht mehr geben würde.

Das ganze zukünftige Leben, dachte er,

würde es jetzt so nicht mehr geben, es würde 

zu einer verschollenen Wirklichkeit werden,

einer Wirklichkeit, die es nicht geschafft hatte.

„ Er schaut die ganze Nacht hinaus in die Nacht und denkt / ob er nicht vielleicht auch ein poröses Schneckenhaus sein könnte “

Jetzt, in der Dämmerung, steht er am heimischen Fenster und fragt sich, 

wo sie wohl hingewandert sein werden, seine Schnecken,

nachdem sie nicht gestorben sind,

wie es eigentlich vorgesehen war,

wenn er den Bus nicht verpasst hätte.

Tot sind sie nun nicht, sondern sie werden

ein Geheimnis bilden für sich und für ihn. 

Seine absonderliche Tätigkeit, denkt er,

hatte den gewöhnlichen Ablauf gestört.

Es war ein sprunghafter Akt gewesen gegen die Vorsehung,

bevor die Geschichte zum Schicksal wird, bleibt sie 

erst einmal nur ein Vorschlag, eine Ewigkeit,

die sich zu Zeiten schichtet, sich in Geschichte wiederholt,

es sei denn, wir entfalten sie  mit einer sanften Verrücktheit, denkt er.

Er denkt jetzt alles, was es zu denken gibt. Er denkt sich aus.

 

Und er denkt sich hinein in die transformierten Schicksale,

die andere Zukunft seiner Schnecken,

die andere Zukunft der Ford-Transitfahrerin,

die aus Tierliebe nicht ins Schlingern kommen musste,

die andere Zukunft des Busses,

wo sein freigebliebener Sitzplatz ein fallengelassener Ozean ist,

die andere Zukunft einer Welt,

die nun seine zufällige Gegenwart ist,

ein Es-war-einmal… als Ronald Reagan

sich das Geburtshoroskop Gorbatschows hatte deuten lassen

und seine Astrologin ihm erklärte, 

welch ein guter Mensch dieser sei, und wie sehr

ihre Aquarius-Planeten in Harmonie stünden,

und sie eine gemeinsame Vision hätten,

so dass Ronnies Seele von da ab

ihr eigenes Ding machte,

indem er abließ von seiner Reich-des-Bösen-Theorie,

die andere Zukunft einer Welt

mit diesem kleinen Braunauer Postkartenmaler,

den das Prüfungskomitee der Wiener Kunstakademie ablehnte,

da er keine Köpfe malen konnte, 

wenn da nur einer der Professoren,

vielleicht aus einer sanften, etwas lächerlichen,

anarchischen Laune heraus, gesagt hätte:

 - Egal, egal, lasst ihn halt Ärsche malen und gut ist

die andere Zukunft einer Welt,

wo er vielleicht gar nicht dort stehen würde

wo er jetzt steht, an seinem Fenster in der Dunkelheit.

 

Er schaut die ganze Nacht hinaus in die Nacht und denkt,

ob er nicht vielleicht auch ein poröses Schneckenhaus sein könnte,

dieser Sternenhimmel, und er irgendein winziger

Bewohner in der Galaxie eines Elementarteilchens am Fühler

unter dem Auge einer der zwei Schnecken

und er denkt, ob er sich nicht eben

im schönen Septembernachmittag

vielleicht sogar selbst gerettet hat,

und er trägt ihn immer noch auf dem Rücken, 

seinen schwarzen Rucksack

und bleibt dort stehen

und lässt sehr, sehr langsam

die Finger an die Sterne tanzen

wie Tatzen auf die Tasten eines unsichtbaren Klaviers

die Wirklichkeit

kann ja auch die Träumerei sein, 

vielleicht der alten Katze an der rostigen Hortensie,

all diese fragile Wirklichkeit

würde auch gegenwärtig keine Macht über ihn bekommen.

 

Dominik Dombrowski lebt als freier Autor, Lektor und Übersetzer in Bonn. Er erhielt zahlreiche Preise und Stipendien, zuletzt erschienen die Bände "Schwanen" und "Ich sage mir nichts" (beide edition AZUR).