Hier schreiben im Wechsel Autor:innen aus dem Rheinland über Sätze, die ihnen hängengeblieben sind. Heute: Dominik Dombrowski.
Die Entfaltung
Das ganze Leben veränderte sich an einem Nachmittag im Aldi Süd,
als ein Schraubglasturm
voller schwarzer Oliven ihm entgegenfiel
und er einem Kassierer half,
die fettigen Scherben aufzupicken,
bis sie ihm an den bloßen Fingern klebten,
nachdem es ihm doch über den Tag noch
gelungen schien, keinen Stein ins Rollen zu bringen,
er jetzt doch nicht mehr ahnen konnte, welchen
Stein er nun gerade hier ins Rollen gebracht hatte,
in diesem Moment der fallenden Gläser
aus dem Regal, die auf seinen schwarzen Schuhen zerschellten,
weshalb er den Bus verpasste
und zu Fuß nach Hause ging,
in dieser schönen blauen Stunde Ende September,
und die Straßen immer dörflicher und leerer wurden
und vor einem Garagentor eine alte schamanische Katze schlief
im Schatten einer rostigen Hortensie.
„ Sie bildeten eine groteske Gemeinschaft / die Schnecken und er “
Er blieb stehen, kramte seinen Tabak hervor und verlor sich
im Schlaf des Tiers.
Dann ging er weiter, zufrieden im Rauch
der Zigarette, immer weiter und stieß plötzlich auf
zwei dunkle Schnecken am Ende der Straße,
deren schwarze Häuschen sie behüteten
vor der Geschwindigkeit. Königliche,
glitzernde, schleimige, winzige Wesen, wie versehentlich
verdoppelt, und Weißgottwem aus einer Murmelbox gekullert.
Ihr lebt gefährlich, murmelte er vor sich hin, und ging
weiter, ging immer weiter und noch ein paar Schritte weiter
und dann blieb er, berührt
von Weißgottwas, abrupt stehen und machte kehrt,
weil seine Seele, wie er vermutete,
jetzt immer öfter ihr eigenes Ding machte,
indem sie das Zufallende erlauschte
zog sie ihn zu den Schneckenhäusern zurück.
Er klopfte solange an beide Häuschen, bis sie sich vom Asphalt lösen ließen,
pflückte sie von der verlassenen Straße, in jeder Hand eines,
zwischen Zeigefinger und Daumen, die Zigarette
klebte ihm im Mundwinkel, der schwarze, schwere Rucksack
auf seinem Rücken zog ihn runter.
Sie bildeten eine groteske Gemeinschaft,
die Schnecken und er, ein Mobile im Windspiel,
in dem er einer lebensgroßen Marionette glich,
in der Pose eines Marionettenspielers - wer auch immer hier
die Fäden in der Hand hielt - balancierte er mit den Schnecken
den eben begangenen Weg wieder zurück
und dann darüber hinaus, wo er eine Baulücke fand,
ein kleines gräsernes Feld,
markiert von ein paar fußballgroßen, weißen Steinen,
dort platzierte er die zwei Tiere hin,
etwas in den Schatten
zwischen Stein und Rasen
an eine günstige Stelle und bekam
die nasse Zigarette endlich aus dem Mund.
Macht was draus! murmelte er zufrieden mit sich, drehte sich um
und erblickte im gleichen Augenblick einen alten
weißen Ford Transit
mit verblasster Aufschrift an der Tür: ORDNUNGSAMT,
gesteuert von einer Uniformierten mähte er
durch die Stille, der Transit, die Straße hinauf,
nicht besonders schnell, aber stetig, und er
erkannte sofort, dass die beiden rechten Reifen exakt
beide Schnecken getroffen haben würden: KRACK, KRACK.
Er hörte dieses Krachen regelrecht.
Aber es war ein Krachen, das es jetzt nicht mehr geben würde.
Das ganze zukünftige Leben, dachte er,
würde es jetzt so nicht mehr geben, es würde
zu einer verschollenen Wirklichkeit werden,
einer Wirklichkeit, die es nicht geschafft hatte.
„ Er schaut die ganze Nacht hinaus in die Nacht und denkt / ob er nicht vielleicht auch ein poröses Schneckenhaus sein könnte “
Jetzt, in der Dämmerung, steht er am heimischen Fenster und fragt sich,
wo sie wohl hingewandert sein werden, seine Schnecken,
nachdem sie nicht gestorben sind,
wie es eigentlich vorgesehen war,
wenn er den Bus nicht verpasst hätte.
Tot sind sie nun nicht, sondern sie werden
ein Geheimnis bilden für sich und für ihn.
Seine absonderliche Tätigkeit, denkt er,
hatte den gewöhnlichen Ablauf gestört.
Es war ein sprunghafter Akt gewesen gegen die Vorsehung,
bevor die Geschichte zum Schicksal wird, bleibt sie
erst einmal nur ein Vorschlag, eine Ewigkeit,
die sich zu Zeiten schichtet, sich in Geschichte wiederholt,
es sei denn, wir entfalten sie mit einer sanften Verrücktheit, denkt er.
Er denkt jetzt alles, was es zu denken gibt. Er denkt sich aus.
Und er denkt sich hinein in die transformierten Schicksale,
die andere Zukunft seiner Schnecken,
die andere Zukunft der Ford-Transitfahrerin,
die aus Tierliebe nicht ins Schlingern kommen musste,
die andere Zukunft des Busses,
wo sein freigebliebener Sitzplatz ein fallengelassener Ozean ist,
die andere Zukunft einer Welt,
die nun seine zufällige Gegenwart ist,
ein Es-war-einmal… als Ronald Reagan
sich das Geburtshoroskop Gorbatschows hatte deuten lassen
und seine Astrologin ihm erklärte,
welch ein guter Mensch dieser sei, und wie sehr
ihre Aquarius-Planeten in Harmonie stünden,
und sie eine gemeinsame Vision hätten,
so dass Ronnies Seele von da ab
ihr eigenes Ding machte,
indem er abließ von seiner Reich-des-Bösen-Theorie,
die andere Zukunft einer Welt
mit diesem kleinen Braunauer Postkartenmaler,
den das Prüfungskomitee der Wiener Kunstakademie ablehnte,
da er keine Köpfe malen konnte,
wenn da nur einer der Professoren,
vielleicht aus einer sanften, etwas lächerlichen,
anarchischen Laune heraus, gesagt hätte:
- Egal, egal, lasst ihn halt Ärsche malen und gut ist
die andere Zukunft einer Welt,
wo er vielleicht gar nicht dort stehen würde
wo er jetzt steht, an seinem Fenster in der Dunkelheit.
Er schaut die ganze Nacht hinaus in die Nacht und denkt,
ob er nicht vielleicht auch ein poröses Schneckenhaus sein könnte,
dieser Sternenhimmel, und er irgendein winziger
Bewohner in der Galaxie eines Elementarteilchens am Fühler
unter dem Auge einer der zwei Schnecken
und er denkt, ob er sich nicht eben
im schönen Septembernachmittag
vielleicht sogar selbst gerettet hat,
und er trägt ihn immer noch auf dem Rücken,
seinen schwarzen Rucksack
und bleibt dort stehen
und lässt sehr, sehr langsam
die Finger an die Sterne tanzen
wie Tatzen auf die Tasten eines unsichtbaren Klaviers
die Wirklichkeit
kann ja auch die Träumerei sein,
vielleicht der alten Katze an der rostigen Hortensie,
all diese fragile Wirklichkeit
würde auch gegenwärtig keine Macht über ihn bekommen.
Dominik Dombrowski lebt als freier Autor, Lektor und Übersetzer in Bonn. Er erhielt zahlreiche Preise und Stipendien, zuletzt erschienen die Bände "Schwanen" und "Ich sage mir nichts" (beide edition AZUR).