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Kolumne

„Was will man machen“

Illustration von Nadine Redlich
Nadine Redlich

Unser Kolumnist Kaleb Erdmann streift durch ein staubbedecktes Leben.

– von Kaleb Erdmann

Bildrechte: Nadine Redlich

Hier schreiben im Wechsel Autor:innen aus dem Rheinland über Sätze, die ihnen hängengeblieben sind. Heute: Kaleb Erdmann

Diesen Sommer ist mein Großonkel Ewald von den Toten zurückgekehrt.

Ewald hatte Ende der 90er beschlossen, nicht mehr am Leben der anderen Menschen teilzunehmen, sich in seine Wohnung in der Bottroper Innenstadt neben dem Hansa Center zurückzuziehen, das Telefonkabel aus der Wand zu reißen und das Haus nur noch zu verlassen um einzukaufen oder den Bottroper Boten aus dem Briefkasten zu holen.

Immer, wenn wir in der Region waren, klingelten wir bei Onkel Ewald, aber er hat nie geöffnet oder auch nur die Sprechanlage aktiviert. Wir haben ihm auch Briefe, Postkarten und kleine Pakete geschickt, die unbeantwortet blieben. Meine Großmutter, Ewalds Schwester, hat hin und wieder in den Auspuff von Ewalds Autos geguckt, um nachzusehen, ob Staub darin lag, ob er vielleicht damit gefahren war. Aber: Immer Staub.

„ Er war spindeldürr, trug eine enorme, steife Halskrause und sah aus wie ein tief unter der Erde lebendes Wesen “

Diesen Juli aß ich gerade in einer Zürcher Badeanstalt die Schweizer Version eines Soleros, da rief mich mein Vater an, um mir mitzuteilen, dass Onkel Ewald vor dem Briefkasten mit dem Bottroper Boten in der Hand ausgerutscht sei und sich den Nacken verstaucht habe.

Als ich eine Woche später sein Zimmer im Bottroper Heiliggeist-Spital betrat, zog sich Ewald verschämt ein Kissen über den Unterleib. Er war spindeldürr, trug eine enorme, steife Halskrause und sah aus wie ein tief unter der Erde lebendes Wesen, das man gewaltsam ans Licht gezerrt hatte, seine Augen groß und fahl wie zwei ausgeknipste Röhrenfernseher.

Ewald war offensichtlich im Zustand fortgeschrittener Demenz und erkannte mich nicht, nannte mich Gerhard und bat mich dringend, den Boxkampf für ihn abzusagen, an dem er heute Abend teilnehmen sollte. Ich bestärkte ihn darin und versprach, die Sache zu regeln.

Nach fast jedem seiner Sätze fügte er ein Was will man machen ein. Und darauf hatte ich absolut keine Antwort. Was will man machen, dachte ich, vor Ewald sitzend, ist eine merkwürdige Redewendung. Vielleicht nicht mal eine Redewendung, nur eine oft gestellte rhetorische Frage. Man stellt sie im Präsenz, aber wenn man sie stellt, dann ist es immer schon zu spät. Eigentlich meint man eher: Was hätte man machen können? Und die Antwort steckt schon in der Frage, nämlich: Nichts. Es musste ganz genau so kommen, wie es geworden ist.

Nach guten zehn Minuten streckte mir Ewald die dünne Hand entgegen und sagte: Tschüss, ich bin müde. Ich nahm seine Hand vorsichtig in meine, ängstlich, sie zu zerdrücken, und verließ dann das Zimmer.

„ Eine riesige Dose Bockwürste diente in der Küche als Türstopper “

Einige Tage später schloss uns der Hausmeister Ewalds Wohnung auf, denn wir mussten seine Krankenkassennummer herausfinden. Ich hatte die Bottroper Innenstadt seit guten zehn Jahren nicht mehr betreten, war allerdings nicht überrascht, dass das Hansa-Center heute nur noch eine leere, ruinierte Bauruine ist, die durch Planen vor Blicken geschützt wird. Mir fiel ein, dass in meiner Kindheit im Bottroper Ehrenpark eine haushohe Max Ernst-Bronze von Buntmetalldieben gestohlen und nie wieder aufgefunden wurde.

Wir bewegten uns mit andächtigen kleinen Schritten durch Ewalds vier Räume. Den Boden bedeckte ein fingerbreiter Pelz aus Staub, darin schmale Korridore, von der Eingangstür zum Sofa, vom Sofa zum Herd, vom Herd zur Toilette. Eine riesige Dose Bockwürste diente in der Küche als Türstopper. Die Wände hatten ein sattes, böses Gelb, von mehreren Bigpacks am Tag, vier davon, noch eingeschweißt, auf dem Couchtisch neben dem Aschenbecher. In einer Vitrine der Schrankwand, aus der die Glasklappe gebrochen war, stand eine kleine Parade dekorativer Eulen aus Steingut mit winzigen, spitzen Staubmützen. Darüber, ebenfalls aus Steingut, eine stehengebliebene Uhr, als hätte der Staub die Bewegung der Zeiger gestoppt. Eine der geräumigen Schubladen war bis zum Rand mit 2-Euro-Münzen gefüllt, eine andere enthielt unsere ungeöffneten Briefe und ungelesenen Postkarten. Das lässt sich bei Postkarten natürlich nicht beweisen. Sie sahen aber ungelesen aus.

Im Brotkasten fanden wir schließlich die Krankenkassenpapiere.

Noch mal eine Woche später standen wir wieder an Ewalds Bett und hörten zu, wie er eine Geschichte erzählte, die wahrscheinlich nicht wahr war.

Was will man machen?, hängte er an, nach kurzem Schweigen.

Und ich dachte, in diesem Moment: Ja, Ewald. Was will man machen?

Kaleb Erdmann lebt als freier Autor in Düsseldorf. Sein Debütroman "wir sind pioniere" erschien im Februar 2024 bei park x ullstein und wurde ausgezeichnet mit dem Debütpreis der Lit.Cologne.