Magazin

Kolumne

"Den Hund Hund sein lassen"

Illustration von Nadine Redlich
Nadine Redlich

Unsere Kolumnistin Nora Schramm fragt bei Hund und Wolf nach Henne und Ei.

– von Nora Schramm

Bildrechte: Nadine Redlich

Hier schreiben im Wechsel Autor:innen aus dem Rheinland über Sätze, die ihnen hängengeblieben sind. Heute: Nora Schramm

Man muss, das sagen mir die Leute jetzt ständig, den Hund auch mal Hund sein lassen. 

Ich will meinen Hund gerne einen Hund sein lassen. Ich habe mir ja aus voller Absicht einen Hund geholt und möchte nicht, dass er sich plötzlich in irgendwas anderes verwandelt, was ich gar nicht aus Spanien gerettet habe. 

Ich höre einem Evolutionsbiologen zu, der sagt, die verschiedenen Hunderassen unterschieden sich so sehr voneinander, dass man sie kaum unter einer Art zusammenfassen könne. Bulldoggen haben zum Beispiel Probleme, mit anderen Hunden in Kontakt zu kommen, weil die Artgenossen sie auf den ersten Blick nicht als ihresgleichen erkennen. 

Ich gehe ab und zu zum Fressnapf und schaue mir die Produkte an, die es so für Hunde gibt und ehrlich gesagt, ich kaufe auch gern mal was. Zum Beispiel neulich einen Kamm mit integrierten Rasierklingen gegen Filz, oder ein Spielzeug in Form eines Lamas, oder einen Trekking-Regenmantel, oder eben, und damit fühle ich mich dann doch noch als Person, die ihren Hund Hund sein lässt: getrocknete Teile von Pflanzenfressern. Pferdehaut, Schweineohren, Kaninchenohren, Hühnerhälse. Ja – das stinkt, wenn es unter dem Schreibtisch zerkaut wird und das ist nicht schön, vor allem nicht, wenn noch etwas vom Fell des jeweiligen Tiers dranhängt, oder wenn man im Vergleich sieht, dass die Ohren alle ein klein bisschen anders sind. Dass manche Schweine geknickte Ohren haben und andere nicht zum Beispiel. 

„ Verzeihen als Voraussetzung, um unter Menschen zu leben. “

Ich lege der Kassiererin alles hin und sage, man muss den Hund auch mal Hund sein lassen, sie sagt, Fressnapf-App oder Paybackkarte? Ich sage, nein, nein, sie sagt, und darf er ein Leckerchen? Oder sie? Oder was bist du denn? Ich sage, ein Hund, er ist ja vor allem ein Hund.

Ich habe ich ein schlechtes Gewissen, dass der Hund Regenmantel trägt. Der Hund hasst Regen. Er kommt aus Spanien, er möchte keinen Regen an sich, sein Fell ist nicht dafür gemacht, aber irgendwie muss man den Hund doch, naja, man darf dem Hund halt irgendwie nichts anziehen.

Ich lese, der entscheidende Unterschied zwischen Hunden und Wölfen sei, dass Hunde verzeihen können. Man könne auch mit einem Wolf zusammenleben, aber wenn der Mensch einen einzigen Fehler mache, dann sei die Beziehung vorbei. Ich finde es einen schönen Gedanken: das Verzeihen als Voraussetzung, um unter Menschen zu leben. Vielleicht ist der Hund dankbar für den Mantel, vielleicht verzeiht er mir den Mantel, so oder so, wir wohnen zusammen.

„ Die Straßenhunde in Moskau benutzen ganz selbstverständlich das Schienennetz. “

Der Evolutionsbiologe ist so fasziniert von Hunden, weil ihre Domestikation bestehen bleibt. Er sagt, bei den meisten domestizierten Tieren sei es anders, nämlich so, dass sie ohne Kontakt zum Menschen wieder verwilderten. Nur Hunde werden auch über Generationen hinweg einfach nicht mehr zu Wölfen. Die Straßenhunde in Moskau benutzen ganz selbstverständlich das Schienennetz. Die Leute lassen die Hunde Hunde sein, und die Hunde – die Hunde fahren Bahn. 

Mein Hund wälzt sich in etwas, das stinkt. Es stinkt wirklich unfassbar tot, ein Fischkadaver, man sieht die Gräten, und ein bisschen Haut und vor allem den Hund, der seinen Hals zu einer Seite herausdrückt, um sich dann, mit dem Hals zuerst, in den ehemaligen Fisch zu senken. Das macht der Hund mehrere Male. Ich finde es erstens interessant, dass er dieselbe Körperstelle wählt wie ich, wenn ich einen Duft auftrage, und zweitens, dass immer dann, wenn ich am meisten unter den Entscheidungen meines Hundes leide, jemand über die Rheinwiesen ruft: Man muss den Hund auch mal Hund sein lassen. Als wären Menschen und Hunde einander absolut entgegengesetzt, wirklich, wie von zwei Planeten. Was für mich eklig ist, muss für den Hund gut sein. Das Einzige, was man tun kann: sich lassen.

Ich habe auch gar nichts dagegen, sich ab und zu mal in Ruhe zu lassen, ich finde Ruhe sogar gut. Es ist aber doch so, dass die Hunde überhaupt nur Hunde geworden sind, weil wir uns eben nicht gelassen haben. Wenn man den Hund Hund sein lässt, dann lässt man vor allem zu, dass er mit den Menschen lebt. Der Evolutionsbiologe hält es eh für plausibler, dass die Wölfe ihre Domestikation selbst eingeleitet haben – dass es also die Wölfe waren, die den Menschen nicht Mensch sein ließen.

Nora Schramm lebt als freie Autorin in Köln. Ihr Debütroman "Hohle Räume" erschien im März 2024 bei Matthes & Seitz Berlin.