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Kolumne

„Fat man“-Dilemma in schwindeliger Höhe

Illustration eines vermenschlichten Berges mit Vöglein darum
© Nadine Redlich

Unser Kolumnist Christian Bartel begibt sich auf gefährliche Mission im bayerischen Ausland.

– von Christian Bartel

Bildrechte: © Nadine Redlich

Hier schreiben im Wechsel Christian Bartel, Juliana Kálnay und Melanie Raabe über Sätze, die ihnen hängengeblieben sind.

Im bayerischen Bierkloster Andechs gibt man sich viel Mühe, die Touristen auf den Berg zu locken. Man kann dort nicht nur andächtig schwankende Wallfahrtsgruppen der beiden deutschen Konfessionen Hopfen und Malz sowie einen spätbarocken Busparkplatz besichtigen, auch die Wallfahrtskirche hat mehr zu bieten als Deckengemälde und mit Blattgold überzogene Prälaten, die in Bayern in jedem Dorfgasthof sitzen.



Der Zwiebelhaubenturm der Klosterkirche stellt eine psychologische Versuchsanordnung dar, an der man selbst als Laborratte teilnehmen kann. Man braucht nur einen Euro und etwas Höhenangst.



Den Euro wirft man gleich in das Drehkreuz am Turmabsatz, die Höhenangst entfaltet sich selbständig in den oberen Stockwerken. Wir verfügten über beides – Euro und Höhenangst.

Die Höhenangst verdrängten wir aus touristischer Ambition. Immerhin lockte oben ein Alpenpanorama mit Blick auf Zugspitze, Wetterstein oder Nanga Parbat – in der alpinen Nomenklatur waren wir unsicher, auch die Höhe des Andechser Kirchturms mit seinen 3000 Meter hatten wir unterschätzt.



Naiv stolperten wir durch das Drehkreuz, dessen Einrasten anzeigte, dass es ab jetzt nur eine Richtung gab – bergan. Die Steintreppen wurden von Holztreppen und noch steileren Stiegen abgelöst, bis wir schließlich über Leitern klettern mussten.

„ Als brave Versuchskaninchen dachten wir gar nicht daran, das Experiment abzubrechen. “

Für einen Ort, der für zügellosen Alkoholausschank berühmt ist, ist der Andechser Kletterturm recht sportiv angelegt. Womöglich können betrunkene Schwarmgeister in fachgerecht eingesegneten Immobilien auf höheren Beistand vertrauen, aber als stocknüchterne Agnostiker hatten wir nichts zu hoffen.



Schnurstracks himmelwärts führte die Einbahnstraße, wobei wir uns mit einem Blick ins Turminnere von den zurückgelegten Höhenmetern hätten überzeugen können – aber die beliebtesten Symptome von Akrophobie wie Herzrasen, Schwindel und Schwitzen stellten sich auch ohne Konfrontationstherapie ein.



Erst nachdem wir etliche Stockwerke erstiegen hatten, wurde uns eine Möglichkeit zur Umkehr geboten, die wir jedoch ausschlugen, weil wir zu diesem Zeitpunkt schon erheblich in den Aufstieg investiert hatten. Als brave Versuchskaninchen dachten wir gar nicht daran, das Experiment abzubrechen. Jeder Schritt, den wir durch das vertikale Labyrinth taten, war schließlich ein Schritt für die Wissenschaft –und die führte uns schließlich auf eine Aussichtsplattform in der Zwiebelhaube knapp unterhalb der Sauerstoffgrenze.



In allen Fensternischen steckten Wandersleute in Kniebundhosen und filmten Alpengipfel ab, sodass uns ein Blick in die Tiefe erspart blieb. Wir machten schließlich ein Selfie vor ihren Hosenböden.



Den Abstieg haben unsere Psychen aus der Erinnerung gestrichen. Ich erinnere mich jedoch an einen korpulenten Mann, der sein Eurostück gerade ins Drehkreuz werfen wollte, als wir wieder festen Boden unter die Füße bekamen. Ein weißes Kollar wies ihn als Kleriker aus und ein Trommelbauch in Kesselpaukengröße als ungeeignet für enge Stiegen.



Augenblick fühlte ich mich in ein moralisches Dilemma gestoßen, das die Philosophin Judith Jarvis Thomson nicht bedacht hatte, als sie die Sozialpsychologie um das „fat man“-Problem bereicherte, bei dem man einen Dicken von einer Brücke stürzen kann, um fünf andere zu retten.



Was, wenn man den Dicken schon vor dem Aufstieg in tödliche Höhen warnen könnte, aber nicht die richtigen Worte findet? Ich jedenfalls fand keine, die ohne Hinweis auf seine Leibesfülle ausgekommen wären – und so ließ ich ihn schlechten Gewissens passieren.



Es war meine Freundin, der eine diskrete Warnung einfiel. Aber das war Stunden später, nachdem wir uns im Biergarten mit Doppelböcken versehentlich bibelfest getrunken hatten. „Markus 10,25“, sagte sie. Ich nickte wissend. „Eher geht ein Kamel ins Himmelreich als ein Pummelpope durchs Andechser Nadelöhr“, sagte ich. Auf dem Heimweg wollten wir den Warn-Vers auf die Wand neben dem Drehkreuz schreiben, aber da war der Versuchsturm schon geschlossen. Aus der Höhe glaubten wir, das Flehen des feststeckenden Pummelpopen zu hören, aber das kann auch das katholische Bier gewesen sein, das in unseren Köpfen rauschte.

Christian Bartel ist Höhenskeptiker und Bierliebhaber. Bayern gefällt ihm besser, als er zugeben möchte.