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Kolumne

Tage der offenen Fenster

Illustration Nadine Tage der offenen Fenster
© Nadine Redlich

Im Sommer verschwimmen die Grenzen zwischen Innen und Außen, beobachtet unsere Kolumnistin Juliana Kálnay.

– von Juliana Kálnay

Bildrechte: © Nadine Redlich

Hier schreiben im Wechsel Christian Bartel, Juliana Kálnay und Melanie Raabe über Sätze, die ihnen hängengeblieben sind.

„Guten Morgen!“ Ich stehe im Pyjama auf dem Balkon, hänge Wäsche auf und brauche einen Moment, bis ich realisiere, dass der Gruß nur mir gelten kann. Es ist früh am Morgen, irgendwo ruft ein Kuckuck, und der Innenhof mit den Garagen, von dem aus man auf meinen Balkon blicken kann, ist leer, bis auf einen Mann, der – ich habe den Gruß noch nicht erwidert – schon dabei ist, in die Einfahrt zu laufen. Ich habe diesen Mann noch nie zuvor gesehen und fühle mich ertappt.

Der Balkon ist Teil meiner Wohnung. Dort lagere ich Getränkekisten, hänge Handtücher und Wäsche zum Trocknen auf und habe ein paar Pflanzen stehen, die gegossen werden müssen. Eine Glastür verbindet ihn mit dem Wohnzimmer, und wenn ich hinaustrete, tue ich das in Hausschuhen und morgens manchmal auch noch im Pyjama. Gleichzeitig – und das führt mir der unerwartete Gruß nun vor Augen – ist der Balkon auch Schwellenraum, der das Innere und Private der Wohnung mit dem Außenraum verbindet. Kein Schaufenster, aber öffentlich einsehbar, wenn man sich bei den Garagen aufhält und nach oben schaut.

Allerdings kommt es selten dazu, dass die Schwelle in den privaten Raum auch kommunikativ durchbrochen wird. Das unterscheidet den Balkon von anderen Schwellenräumen wie dem Treppenhaus, das ich manchmal, wenn ich nur zu den Briefkästen laufe, ebenfalls in Hausschuhen betrete und in dem man sich für gewöhnlich grüßt, wenn man sich dort begegnet. Über Gespräche, die man von den Nachbarbalkonen und -hinterhöfen vernimmt, hört man dagegen elegant hinweg. Hält für die Mitmenschen und auch sich selbst die Illusion aufrecht, man wäre dort ganz für sich. So kenne ich es zumindest aus dem Stadtleben.

In diesem Sommer reiht sich eine Hitzewelle an die nächste. In regelmäßigen Abständen öffne ich zum Lüften die Fenster und ziehe dann wieder die Vorhänge zu, damit die Sonne nicht zu stark ins Zimmer knallt. Da meine Vormieter glücklicherweise auf die Idee gekommen sind, an einigen Fenstern der Wohnung Fliegengitter anzubringen, bleibt immerhin dieser lästige Teil der Außenwelt draußen. Dennoch scheint es mir, als würde durch die geöffneten Fenster ein größerer Teil des Alltags mit der Nachbarschaft geteilt werden. Als würden die sommerlichen Temperaturen dazu führen, dass die Wände, die die Wohnräume von der Außenwelt trennen, nach außen hin durchlässiger werden.

„ Es scheint, als würden die sommerlichen Temperaturen dazu führen, dass die Wände, die die Wohnräume von der Außenwelt trennen, nach außen hin durchlässiger werden. “

Zumindest geräuschtechnisch scheint es nur noch eine dünne Membran zwischen Innen und Außen zu geben. In ungedämpfter Lautstärke dringen die Klänge zu mir, als würde ich mich im selben Raum befinden wie der Müllwagen, der zur Straße hin vor meinem Fenster parkt und die Mülltonnen leert. Immer wieder höre ich die Straßenbahn und Busse vorbeifahren. Mein Telefon klingelt, ich stehe auf und merke dann, dass es doch nicht meines ist, sondern das eines Passanten mit dem gleichen Klingelton. Zwischendurch höre ich auch Schritte und Stimmen. Ein Mädchen ruft: „Papa, ich muss dir etwas zeigen!“ Natürlich bekomme ich nicht zu sehen, was es ist, das sie ihm zeigt. Das Straßentheater findet für mich nur als Hörspiel statt. Und ein wenig erinnert es mich daran, in der Bahn zu sitzen und unfreiwillig ein Gespräch mitzuhören, das hinter meinem Rücken stattfindet. Irgendwann weiß ich so viel von den Beteiligten, dass mir nur noch die Gesichter zu der Geschichte fehlen. Dennoch drehe ich mich nicht um, es wäre dann allzu offensichtlich, dass ich alles mitbekommen habe.

In den warmen Tagen höre ich auch viel häufiger Krankenwagensirenen, und ich bin mir nicht sicher, ob ich die erhöhte Frequenz ihrer Wahrnehmung auf meine offenen Fenster zurückführen soll oder darauf, dass bei diesen Temperaturen mehr Menschen einen Krankenwagen benötigen. Die Nachbarn unter mir gehören altersbedingt zur Risikogruppe für Hitzschläge, doch es scheint ihnen gut zu gehen, sie haben Besuch und grillen. Der Bratwurstgeruch dringt durch mein Fenster. Im Hof hinter den Garagen ist eine Hüpfburg aufgebaut. Kinder kreischen. Eines hat wahrscheinlich Geburtstag.

„Schatz, hast du mein Ladekabel gesehen?“, fragt dagegen jemand auf dem Balkon über mir. Es würde mich wundern, wenn sie es ausgerechnet auf dem Balkon fänden, doch die Antwort höre ich schon nicht mehr. Ein Telefon klingelt, es ist meins, ich schließe das Fenster und gönne mir etwas Privatsphäre.

Mittlerweile ist es Herbst geworden. Ich wage mich nur noch mit einem dicken Pullover auf den Balkon und in meiner Wohnung höre ich vor allem die Regentropfen gegen die Fenster prasseln. Sie bleiben überwiegend geschlossen, genauso wie die Zimmertüren – in diesem Jahr gilt es umso mehr die kostbare Warmluft nicht entweichen zu lassen. Und ich frage mich, wohin die Tage zwischen denen der offenen und der geschlossenen Fenster verschwunden sind, ja ob es sie überhaupt gegeben hat.

Juliana Kálnay wird wohl nie verstehen, wie Menschen bei offenem Fenster gut schlafen können und bevorzugt darüber hinaus Tage und Temperaturen, an denen man weder friert noch schwitzt.