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Buchempfehlung

Von Monstern und Mäusen

Andrea Lunau mit Buch
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Andrea Lunau von der Buchhandlung Ute Hentschel warnt vor und empfiehlt umso dringlicher „Liebe ist gewaltig“ von Claudia Schumacher.

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In Deutschland kommen jedes Jahr mehr als zehntausend Neuerscheinungen auf den Markt. Wer kann da noch den Überblick behalten? Wir! Einmal im Monat empfehlen Literaturkenner*innen und Vielleser*innen aus unserem Netzwerk ein Buch, das sich lohnt. Warum? Das beantwortet der Fragebogen.

Andrea Lunau von der Buchhandlung Ute Hentschel in Burscheid empfiehlt im Juli Liebe ist gewaltig von Claudia Schumacher – und fügt gleich eine Trigger-Warnung [häusliche Gewalt/ Gewalt gegenüber Frauen/Kindern] hinzu. Und sagt: Trotzdem oder gerade deswegen ein must read in diesem Bücherjahr.

Worum geht es?

Juli wächst nach außen in einer Vorzeigefamilie auf: Die Eltern sind Rechtsanwälte, sie ist Klassenbeste. Doch in der Kleinstadtvilla herrscht das Grauen. Der Vater drillt die Kinder auf Leistung, prügelt sie und seine Frau. Juli wird älter, fordert ein Ende der Gewalt, deren Existenz von der Mutter vehement abgestritten wird. Einzig ihre Geschwister und eine Maus geben Halt. Doch wie kann man sich befreien, wenn man weder der Familie noch den eigenen Erinnerungen traut? Die Befreiung gerät zum Feldzug – gegen die Eltern und das eigene Ich. Drei Jahrzehnte folgen wir Juli, die mit aller Macht versucht, die Deutungshoheit über ihr Leben zu erlangen.

Und worum geht es wirklich?

Es geht um einen machtbesessenen Vater, um eine Mutter, die weder sich noch ihre Kinder schützen kann, und um drei Kinder, die auf perfide Weise von den Erwachsenen gegeneinander ausgespielt werden. Es geht um Verdrängung und Verleugnen. Es geht um Juli. Eine verletzte junge Frau, die einen langen Weg gehen muss, um sich ihrer eigenen Stärke bewusst zu werden. Ein Opfer jahrzehntelanger häuslicher Gewalt, das lange braucht, um sich aus toxischen Beziehungen zu befreien – in der Liebe, aber auch in ihrer Familie. Und eine Überlebende, die sich am Ende selbst finden muss.

Claudia Schumacher schreibt ihr Debüt in einer so kraftvollen Sprache, dass ich beim Lesen eine Gänsehaut bekommen habe. Sie lässt uns Teilhaben an der Verzweiflung, an der Wut und an der Trauer von Juli, ohne dabei voyeuristisch auf deren Leben zu blicken. Die präzisen Worte, die diese Art von Drangsalierung schildern, sind brutal. Keins ist zu viel. Gleichzeitig schafft die Autorin leichte, unterhaltsame Szenen, sodass man als Leser*in nicht loskommt.

Der Roman behandelt ein Thema, das schnell von Schreibtischen örtlicher Polizeiwachen verschwindet, aber auch in der Literatur trotz seiner immensen Wichtigkeit in dieser Art selten auffindbar ist. Häusliche Gewalt innerhalb der Kernfamilie, Femizide, physische und psychologische Übergriffe – gerade auf Kinder und Frauen: Die Fallzahlen sind in den vergangenen Jahren gestiegen. Hört man die Berichte aus Frauen- und Familienberatungsstellen, brauchen wir für dieses Thema mehr Aufmerksamkeit und keine gesellschaftliche Ächtung der Opfer.

Dieses Buch gehört in die Reihe „Kampfansage an das Patriarchat“ und macht sich im Bücherregal in diesem Jahr besonders gut neben Mareike Fallwickls Die Wut, die bleibt, Camille Laurens Es ist ein Mädchen, Tatjana von der Beeks Die Welt vor den Fenstern oder Sachbuchtiteln wie Franziska Schutzbachs Die Erschöpfung der Frauen und Kristina Lunz' Die Zukunft der Außenpolitik ist feministisch.

Welches Zitat gehört an den Küchenschrank gepinnt?

„Doch was ich sagen will: Du bist kostbar. Nicht trotz des komischen kleinen Mädchens, das in dir steckt, sondern deswegen. Du musst dir dein Recht auf Leben nicht verdienen, indem du dir das seltsame Mädchen austreibst. Du bist dieses Mädchen. Es wurde geboren mit dem unverrückbaren Recht zu leben – auch wenn Papa es vernichten wollte.“

Wo liest man dieses Buch am besten?

Überall. Denn man will diesen Roman nicht aus den Händen legen, sobald man ihn angefangen hat. Eine Sogwirkung – so sehr, dass man mit der S-Bahn lieber bis zur Endhaltestelle fährt und wieder zurück, als mit dem Lesen aufzuhören! Alternativ hört man das Hörbuch, das von Inka Löwendorf bei Argon grandios eingesprochen wurde.

Wer dieses Buch liest, sollte ...?

… sich darüber bewusst sein, dass es um häusliche Gewalt geht. Um tiefgehende Verletzungen von Kinderseelen, vom Versagen des sozialen Systems gegenüber den Schwächsten der Gesellschaft. Um eine Reise einer jungen Frau zu sich selbst. Eine Reise, die voll ist von Momenten, in denen man als Leser*in die Protagonistin abwechselnd schütteln und in den Arm nehmen möchte. Und nach diesem Buch unbedingt eins der oben genannten Bücher als Nächstes lesen!

 

Das Buch:

Claudia Schumacher: Liebe ist gewaltig

erschienen bei dtv

München 2022

376 Seiten