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Buchempfehlung

Zuckrige Weiblichkeitsideale

Svenja Reiner
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Svenja Reiner von INSERT FEMALE ARTIST klebt Klebezettel in „Süß. Eine feministische Kritik“ von Ann-Kristin Tlusty.

– von Svenja Reiner

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In Deutschland kommen jedes Jahr mehr als zehntausend Neuerscheinungen auf den Markt. Wer kann da noch den Überblick behalten? Wir! Einmal im Monat empfehlen Literaturkenner*innen und Vielleser*innen aus unserem Netzwerk ein Buch, das sich lohnt. Warum? Das beantwortet der Fragebogen.

Svenja Reiner von INSERT FEMALE ARTIST empfiehlt im Mai Süß. Eine feministische Kritik von Ann-Kristin Tlusty:

Worum geht es?

Der Potenzfeminismus behauptet: Mit genug invididueller Arbeit am Körper und Sex, mit klugen Fonds, strikter Karriereplanung und dem Bauchworkout lässt sich das Patriarchat überwinden. Oder zumindest die eigene Biografie als Gewinnerin schreiben. Dafür bieten sich wahlweise die Rollen der zarten, der süßen oder der sanften Frau an, die die Autorin aus Fiktion und Realität, anhand sich selbst, ihrer Freundinnen und mit Blick auf Diskurse, Romane und Serien herausarbeitet. Dass deren Ideologie jedoch lediglich „ein Verständnis von Weiblichkeit reproduzieren, das […] männliche Projektion ist“, wusste schon Inge Stephan (1983: 19)

Und worum geht es wirklich?

Ich frage mal zurück: Liebt Charlie Barber seine Ehefrau Nicole in „Marriage Story“ vor allem, weil sie gut zuhört, sich um Familienkram und seine Launen kümmert, eine tolle Mutter ist, die tolle Geschenke macht und nie sagt, wenn es ihr zu viel wird? Wird die unbezahlte Carearbeit der sanften Frau nicht erst beim Versuch sichtbar, sie an eine dritte Person (zumeist ebenfalls weiblich) weiterzugeben? Und zementiert der Umstand, dass Reinigungskräfte, Assistent*innen nicht befördert werden und nicht aufsteigen können, jenseits ihrer noch so guten Bezahlung in einer karrieristisch ausgerichteten westlichen Welt ein Ungleichgewicht, das, solange die diese Carearbeit nun mal unbezahlt bleibt, politisch gewollt ist?

Ist die Sexualität der süßen Frau selbstbestimmt oder hat diese vor allem gelernt, sich selbst als Objekt männlicher Begierde zu betrachten und als Eye Candy allzeit bereit und erotisiert zu sein? Wie viel Raum ist in ihrem unkomplizierten, unverbindlichen Sex für Komplikationen, Schmerzen und Unsicherheiten? Ist es nicht denkbar, dass die süße Frau vor allem die Rollen der auf-keinen-Fall-Prüden und niemals Verklemmten performt – eine  Figur, die stets und sehr genau weiß, was sie will? Sollte eine sexuelle Beziehung nicht vielmehr ein komplexes Gespräch sein, indem man sich selbst und das Gegenüber immer besser kennenlernt und das tiefer geht als das enthusiastische Ja und das entschiedene Nein?

Und warum kichert Netflix’ spätkapitalistisch zugerichtete Holly Golightly in Form von Emily Cooper eigentlich die ganze Zeit, während die sechsstellige Beträge für ihre Agentur und siebenstellige Followerzahlen einfährt? Scheint hier nicht Joan Rivieres Idee von Weiblichkeit als Maskerade auf, die versucht, Momente von selbstbewusstem Verhalten durch stereotypes Verhalten zu vergelten? Reicht diese verinnerlichte und zugeschriebene Vorstellung von heterosexueller Vollständigkeit wirklich so weit, dass diese zarte Frauen, auch wenn sie so berühmt wie Frieda Kahlo werden, nur über ihre Beziehungen chronologisiert und erzählt werden, man ihnen weder Täter*innenschaft zuschreibt noch so viel Selbstständigkeit, die Pille danach nicht „wie Smarties“ (Jens Spahn) zu konsumieren?

Um mal die Frage zu beantworten: Es geht im Buch um die Spurensuche des Patriarchats im eigenen Denken, Handeln, Fühlen und Urteilen, im Alltag und in Beziehungen. Weniger mit dem Ziel, Sanftheit, Zärtlichkeit und Süßheit abzuschaffen, sondern auszuweiten auf eine sanfte Gesellschaft, die auf das genderunabhängige Bedürfnis, umsorgt zu werden, achtet, in der man sich, vom eigenen Begehren geleitet, hingibt, und in zarter Manier Abhängigkeiten und Widersprüche erkennt.

Welches Zitat gehört an den Küchenschrank gepinnt?

„Durch die Infragestellung vielfältiger Normen, der Norm der Heterosexualität, der Monogamie, des Vorrangs männlicher Lust, des Besitzanspruchs auf eine Partnerin, der Doppelmoral der bürgerlichen Zweierbeziehung, hat sie unsere Kultur im vergangenen Jahrhundert nachhaltig liberalisiert […] jedoch fanden sie statt, ohne die Idee des Patriachats auflösen zu können. Menschen aller Geschlechtern wird eine lustvolle Sexualität heute zumeist selbstverständlich zugestanden, jedoch bedeutet diese Errungenschaft der vergangenen Jahrzehnte nach wie vor für Frauen, Queens und trans Personen etwas vollkommen anderes als für heterosexuelle cis Männer.“ (S. 73)

Wo liest man dieses Buch am besten?

Im Café, am Strand, in der U-Bahn, in der Pause, am Arbeitsplatz und zwischen zwei Sets auf dem Musikfestival – die Auswirkungen zuckriger Weiblichkeitsideale finden sich überall.

Wer dieses Buch liest, sollte ...?

... unterstreichen oder mit Klebezetteln arbeiten. Ann-Kristin Tlusty arbeitet klug vom individuellen Beispiel in die systemischen Muster, betrachtet historische Entwicklungen, politische Entscheidungen und bindet soziologische Theorie ein. Man will nach der Lektüre der Kapitel alles erinnern und mit den Freund*innen diskutieren, um die im eigenen Leben entdeckten, süßen Denkmuster gemeinsam abzustreifen.

 

Das Buch:

Ann-Kristin Tlusty: Süß. Eine feministische Kritik

erschienen beim Hanser Verlag

München 2021

176 Seiten Essay, 197 Seiten mit Anmerkungen