Magazin

Kolumne

Kamelle! Kamelle?

Zwei komische Viren
© Nadine Redlich

Christian Bartel über den Verlust gezuckerter Tradition.

– von Christian Bartel

Bildrechte: © Nadine Redlich

Hier schreiben im Wechsel Christian Bartel, Juliana Kálnay und Melanie Raabe über Sätze, die ihnen hängengeblieben sind.

Neulich, kurz vor Beginn des Karnevals, haben ein paar rheinische Vorschulkinder mit einer einfachen Frage deutlich gemacht, wie leicht die kulturelle Überlieferung aus der Spur zu bringen ist. „Was ist Kamelle?“, lautete ihre Frage. Das weiß zwischen Koblenz und Aachen eigentlich jedes Kind, denn das Zuckerzeug wird fuderweise aus auffälligen Prunkwagen bei öffentlichen Umzügen herausgeschaufelt. Für naschfreudige Dreikäsehochs, deren Zugang zu ungesundem Zeug normalerweise von Erwachsenen reglementiert wird, ist dieser Karies-Potlatsch ein durchaus eindrückliches Bild. Auch migrantische Neuzugänge bekommen schnell spitz, dass die Bewohnerinnen und Bewohner ihrer seltsamen neuen Heimat einmal im Jahr mit Süßigkeiten überschüttet werden. Dazu muss man sich bloß zum richtigen Termin an den Straßenrand stellen, niederschwelliger geht es kaum.

Bei allen ästhetischen Anfechtungen, die das Leben in einer Brauchtumszone mit sich bringt, ist dieses bedingungslose Grundeinkommen in Zuckerkram ein durchaus sympathischer Aspekt rheinischer Kultur. Womöglich gar ein Stück institutionalisierter Willkommenskultur, immerhin gilt die jährliche Einladung ins Schlaraffenland der Plombenzieher Einheimischen wie Zugezogenen. Bloß Paradontose-Patienten und Diabetiker sollten ein wenig vorsichtiger zubeißen.

Dann kam die Seuche, die Karnevalszüge der letzten Sessionen fielen aus und mangels eigener Kamelle-Erfahrungen fand die Vokabel keinen Eingang in den Wortschatz der Vorschulkinder.

„ ‚Welche Jahreszeit haben wir denn gerade?‘, wurde gefragt. ‚Karneval!‘, hätte die Antwort lauten sollen. “

Die Frage kam übrigens auf, als die kleinen Lese-Aspiranten ihre Seepferdchenprüfung für Bibliotheken ablegten. Die Kinder lernten in einer Stadtteilbücherei, wozu dieses auffällige Gebäude in der Ortsmitte dient, dass man Geschichten in Papier verwandeln kann und dass man bei Büchern blättern und nicht swipen muss. Solche Initiation in die Welt der Literatur konnte natürlich nicht mit Apfelschnitzen gefeiert werden, weswegen eine Kamelle-Gratifikation in Tüten sowie in Aussicht gestellt wurde. Augenblicklich fachten die blickdichten Papierbehälter Neugier und Fantasie der Kinder an, und genau die soll literarische Früherziehung ja anfachen. „Was ist da drin?“, fragten die Kinder also.

„Ein kleines Geschenk, wenn ihr gut mitarbeitet“, kam die Antwort. Wie alle vernünftigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer waren die Kinder jedoch skeptisch, ob sie angemessen entlohnt würden und verlangten Details. Damit wiederum wollte die andere Seite nicht herausrücken und versuchte ein Ratespiel. „Welche Jahreszeit haben wir denn gerade?“, wurde gefragt.

„Karneval!“, hätte die Antwort lauten sollen, womit bewiesen wäre, dass die tollen Tage auch unter Schriftkundigen hierzulande als vollwertige Jahreszeit gelten. Die Kinder aber gaben eine Antwort, die niederschmetternder nicht hätte sein können, weil sie die Summe ihrer erinnerten Lebenserfahrungen korrekt zusammenfasst. „Corona!“, antworteten sie.

Fünfjährige kennen ja wirklich nichts anderes, denn als es mit der Seuche losging, lag ihr Erinnerungsvermögen noch in den Windeln. Für diese Altersklasse ist die Pandemie ewige Gegenwart. Alles, was davor geschah, ist Mythologie, das undeutliche Raunen von Stammesältesten am Lagerfeuer. Wie zum Beispiel die Mär von einem unwahrscheinlichen Bonbonregen namens „Kamelle“, die ihre Bibliothekarin ihnen da gerade erzählte.

Zwar nickten die Kinder brav, aber überzeugt wirkten sie nicht. Kamelle gehörten nicht mehr zu ihrer Welt, jedes kollektive Gedächtnis steht auf tönernen Füßen, die wiederum in Kinderschuhen stecken. Kaum ist die Traditionsweitergabe unterbrochen, zerbröseln auch hartnäckigste Kulturstandards wie ein Backenzahn unter steinhartem Maoam.

Mir geht es übrigens gar nicht um die ollen Kamelle. Ich erzähle die Episode nur, um mir ein wenig Mut zu machen. Denn zum Glück gilt dieser Umstand nicht nur für harmlose, wenn auch zahnschädigende Karnevalsbräuche, sondern auch für toxisches kulturelles Gepäck wie ethnischen Hass, weiße Suprematie, Homophobie und den aktuellen Rachekomplex einer von imperialen Phantomschmerzen gepeinigten Macht. Wenn man solche Ideen nicht weiterträgt, sind sie schnell aus der Welt. Wir müssen allerdings noch herausfinden, wie wir solche Gewaltfantasmen wirksam unter Quarantäne stellen können.

Christian Bartel begleitet den rheinischen Karneval schon von Milchzähnen an, kann jedoch auf manche Traditionen gut verzichten.