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Kolumne

Wir sind 19/7 für Sie da!

Zeichnung von Nadine Redlich mit einem Männchen und einer Tafel mit verschiedenen Berechnungen der Uhrzeit.
© Nadine Redlich

Juliana Kálnay über magische (Un-)Genauigkeit von Öffnungszeiten.

– von Juliana Kálnay

Bildrechte: © Nadine Redlich

Hier schreiben im Wechsel Christian Bartel, Juliana Kálnay und Melanie Raabe über Sätze, die ihnen hängengeblieben sind.

Manchmal stolpert man plötzlich über etwas, das einem merkwürdig erscheint, und kann dabei nicht sagen, ob dieses Merkwürdige schon immer so war oder ob es einem zuvor nur nie aufgefallen ist. So ging es mir, als ich letztens durch Köln spazierte und an der Schaufensterscheibe einer Spielhalle den Schriftzug „täglich 19 Std. geöffnet“ las. Es war Samstagnachmittag und die Spielhalle hatte geschlossen.

Warum gerade diese fünftstündige Pause?, fragte ich mich. Warum scheint es einen größeren Bedarf am Betrieb der Spielhalle samstagfrüh um halb sieben zu geben als um 14:35 Uhr? Warum wirbt die Spielhalle damit, dass sie jeden Tag 19 Stunden geöffnet hat anstatt mit den konkreten Öffnungszeiten? Möchte sie sich damit von Konkurrenzlokalen abheben, die teilweise – und wesentlich austauschbarer – ankündigen, rund um die Uhr geöffnet zu haben? Warum hat man sich für ein Zeitfenster von genau 19 Stunden und nicht etwa 18 oder 21 entschieden? Und war dies schon immer so? In einem roten Kasten ragt eine weiße 19 über die roten Buchstaben des Schriftzuges empor. Wurde sie womöglich erst nachträglich aufgeklebt? Hatte es Zeiten gegeben, in denen auch diese Spielhalle täglich 24 Stunden öffnete? Und hatte sie ihre Öffnungszeiten gar durch Personalengpässe oder weniger Kunden in der Pandemie reduziert?

In diesem Moment kam mir eine Meldung von März 2020 in den Sinn. Damals hatte der Hamburger „Elbschlosskeller“, der unter anderem dafür bekannt gewesen war, seit 70 Jahren stets rund um die Uhr geöffnet zu haben, wie alle Kneipen schließen müssen. Doch der Wirt hatte keinen Schlüssel mehr gehabt. Er war irgendwann verlorengegangen und da man nie zu machte, hatte man ihn bis dahin auch nicht vermisst.

„ Ich dachte auch an die Preisschilder, auf denen Waren gerne 9,99, 19,99 oder 39,99 Euro kosten, weil man dies angeblich als günstiger wahrnimmt. “

Als ich vor ein paar Jahren mit meinem Debütroman auf Lesereise war, bekam ich häufiger die Frage gestellt, was es mit der Hausnummer des Mietshauses auf sich habe, um den die Romanhandlung kreiste, warum ich mich für die 29 entschieden hätte. Damals war ich 29 oder kurz davor, 29 zu werden, und man vermutete, dass es etwas mit meinem Alter zu tun hätte. Ich fand diese Vorstellung absurd, zumal ich einige Jahre an dem Roman gearbeitet hatte und dabei gar nicht hatte absehen können, wie alt ich sein würde, wenn er erschiene. Ich hätte eine Zahl nehmen wollen, die weder besonders hoch noch besonders niedrig sei, antwortete ich stattdessen, und dass es mir gefiel, dass diese Zahl auf neun endete, weil dies bedeutete, dass sie kurz davor stünde, eine runde Zahl zu sein und doch noch keine wäre. Ich dachte auch an die Preisschilder, auf denen Waren gerne 9,99, 19,99 oder 39,99 Euro kosten, weil man dies angeblich als günstiger wahrnimmt, als wenn 10, 20 oder 40 Euro auf dem Preisschild stünden, aber das sagte ich nicht.

In seinen Harvard-Vorlesungen aus den 1960er Jahren, die auf Deutsch unter dem Titel „Das Handwerk des Dichters“ erschienen sind, sprach Jorge Luis Borges von „eine[r] Art magischer Genauigkeit“, die Wendungen wie „forever and a day“ oder auch dem Titel „Tausendundeine Nacht“ innewohnen. Für die Vorstellungskraft wirken tausend Nächte abstrakt und unbestimmt wie sehr viele Nächte, die jedoch auf eine fanstastische Weise präzise werden, sobald man ihnen eine Nacht hinzufügt.

Tatsächlich hätte ein Schriftzug „24 Std. geöffnet“ wohl kaum meine Fantasie angeregt, hätte doch genauso gut auch „den ganzen Tag“ oder „immer geöffnet“ dort stehen können. Die Angabe von genau 19 – und nicht etwa 20 – Stunden jedoch, wirkt ausgewählt, zählbar, präzise.

Nicht zuletzt ist die Nennung magisch-präziser Details auch ein dankbares Mittel, um Glaubwürdigkeit in Erzählungen zu erzeugen. Dies gilt gerade dann, wenn die Ereignisse, die man schildert unwahrscheinlich erscheinen könnten oder hingenommen werden muss, dass andere Erzählelemente rätselhaft bleiben.

Aus Neugier ging ich einige Tage später erneut an der Spielhalle vorbei. Es war an einem Mittwoch um 18.44 Uhr. Sie hatte geöffnet.

Juliana Kálnay hat mittlerweile das Gefühl, das alles, was vor Beginn der Pandemie stattfand, schon ewig und drei Tage her ist. An manchen Tagen jedoch scheint es, als wäre es erst gestern gewesen. Stand heute trägt sie 22,83 Euro Bargeld mit sich herum. An einen Besuch in einer Spielhalle kann sie sich nicht erinnern.