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Buchempfehlung

Ein gestohlenes Leben

Cover des Buches von Édouard Louis auf einem E-Reader

Für Ronja Rast vom Literaturbüro NRW ist das neue Buch von Édouard Louis alles andere als eine rührselige Familiengeschichte.

– von Ronja Rast

In Deutschland kommen jedes Jahr mehr als zehntausend Neuerscheinungen auf den Markt. Wer kann da noch den Überblick behalten? Wir! Einmal im Monat empfehlen Literaturkenner*innen und Vielleser*innen aus unserem Netzwerk ein Buch, das sich lohnt. Warum? Das beantwortet der Fragebogen.

Ronja Rast, beim Literaturbüro NRW in Düsseldorf u.a. für das Projekt „Schreibland NRW“ zuständig, empfiehlt im Februar Die Freiheit einer Frau von Édouard Louis:

Worum geht es?

Édouard Louis erzählt von seiner Mutter. Wie er sie in seiner armen Kindheit in einem nordfranzösischen Dorf wahrgenommen hat, wie sie unter der Gewalt seines Vaters und ihrer Rolle als Mutter und Hausfrau litt, wie er sich ihr nicht anvertrauen konnte und sich für sie schämte. Aber auch: Wie sie es schaffte, sich von seinem Vater zu trennen und ein neues Leben zu beginnen. Er zeichnet ein schonungsloses aber auch zärtliches Bild von seiner Mutter und der Annäherung zwischen den beiden, die erst spät stattfinden konnte.

Die Freiheit der Frauen kann (muss aber nicht) als dritter Teil einer Trilogie gelesen werden, in der Louis von seiner Kindheit erzählt.

Und worum geht es wirklich?

Vor allem um Armut. Wie in seinen früheren zwei Romanen Das Ende von Eddy und Wer hat meinen Vater umgebracht schildert Louis ohne Romantisierung die Realität seiner verarmten Kindheit. Als „Aufsteiger“, so stellt er selbst fest, hat er einen messerscharfen Blick auf die Gewalt, die seine jungen Jahre und das Leben seiner Eltern und seiner Geschwister geprägt hat und die er als Konsequenz der desolaten Zustände darstellt.

Welches Zitat gehört an den Küchenschrank gepinnt?

„Der Anblick des Glücks hat mich die Ungerechtigkeit seiner Zerstörung spüren lassen.“

Wo liest man dieses Buch am besten?

Irgendwo, wo man eins bis zwei Stunden ungestört ist. Denn mehr Zeit braucht man nicht für das knapp 100 Seiten lange Buch.

Wer dieses Buch liest, sollte ...?

… keine rührselige Familiengeschichte erwarten. Louis beschönigt nicht. Er ist ein politischer Autor und seine Werke sind auch so zu lesen. In Wer hat meinen Vater umgebracht nennt er Namen von Politikern, die durch ihre Gesetzgebung die Lebensumstände der Ärmsten noch verschlimmern. In Die Freiheit einer Frau macht er deutlich, dass seiner Mutter Jahre ihres Lebens von Männern gestohlen wurden. Die gegen sie ausgeübte Gewalt gab sie mitunter an ihre Kinder weiter. Umso bewegender ist Édouard Louis‘ sehr ehrliches Porträt seiner Mutter, in dem auch viel Liebe zu finden ist.

Das Buch:

Édouard Louis: Die Freiheit einer Frau

erschienen bei S. Fischer Verlag

Frankfurt 2021

96 Seiten