In Deutschland kommen jedes Jahr mehr als zehntausend Neuerscheinungen auf den Markt. Wer kann da noch den Überblick behalten? Wir! Einmal im Monat empfehlen Literaturkenner*innen und Vielleser*innen aus unserem Netzwerk ein Buch, das sich lohnt. Warum? Das erfragt der Fragebogen.
Corinna Bärenz, Projektleiterin im Ulla-Hahn-Haus Monheim, empfiehlt im Januar Drei Kameradinnen von Shida Bazyar:
Die Autorin Shida Bazyar erzählt in ihrem aktuellen Roman von drei in Berlin lebenden Frauen mit Migrationshintergrund und Diskriminierungserfahrungen, die alle auf ihre Art gegen Rassismus und um ihren Platz in der Gesellschaft kämpfen. Nach einigen Jahren treffen sich Hani, Kasih und Saya, die seit ihrer Kindheit durch eine tiefe Freundschaft verbunden sind, wieder und schwelgen für ein paar Tage in gemeinsamen Erinnerungen. Wunderbar und anschaulich beschrieben, tauchen sie auf dem Dach eines Mietshauses in Erfahrungen, die sie in all der Zeit gemacht haben. Nicht nur die gemeinsame Erfahrung zieht einen als Leser*in in den Bann, sondern auch die einzelnen Charaktere, deren Schicksale, basierend auf ihrer Herkunft, unterschiedliche Wendungen nehmen. Da ist Kasih, die zwar alles zeitnah aufschreiben kann, aber dabei ständig Wirklichkeit und Fiktion, Vergangenheit und Gegenwart miteinander vermischt. Dazu kommt Saya, die Workshops für Schüler*innen gibt und immer bereit ist für die gerechte Sache zu kämpfen. Ihr gegenüber steht Hani. Ebenfalls kriegsgeprägt, lebt sie ihre Sexualität mit beiden Geschlechtern offen aus und geht gerne Problemen aus dem weg. Als Bürokauffrau übernimmt sie oftmals Arbeitsstrukturen, die über ihr eigenes Arbeitsfeld hinausgehen, nimmt dies aber klaglos hin.
Die Hochzeit ihrer gemeinsamen Freundin ist der Grund ihres Zusammenkommens, aber nicht der ausschließliche Fokus der Handlung. Man weiß von Anfang an, dass etwas Schlimmes geschehen wird, und schnell wird klar, dass Saya „im Knast“ sitzt, wie die Erzählerin es nennen will, weil sie „lässige“ Formulierungen liebt. Im Austausch der Freundinnen werden Geschehnisse thematisiert, die von Ausgrenzung, Schubladendenken und Vorurteilen künden.
„Aber eigentlich habe ich noch nie verstanden, warum alle immer so tun, als wäre die Summe an Beispielen ein größerer Beweis als ein einziges. Wer uns nach einem Bespiel nicht glaubt, tut es meist auch nach dem fünfzigsten nicht. Und weil ich euch nicht kenne, muss ich leider annehmen, dass einige von euch zu denen gehören, die zwar so tun, als würde man sie von der Struktur, die hinter bestimmten Erfahrungen stecken, überzeugen können, denen unsere Erzählungen aber dann irgendwie doch nicht so ganz reichen, um überzeugt zu sein.“
An einem Ort, an dem man ungestört ist. Die Erfahrungen der jungen Frauen, ihre unterschiedlichen Schicksalswege und ihre individuellen Erfahrungen mit der Gesellschaft lassen einen nicht bloß mit dem Kopf schütteln, sondern können auch regelrecht wütend machen. Shida Bazyar schildert die Erlebnisse ihrer drei Protagonistinnen so eindrücklich, dass man als Leser*in direkt mitfühlt. Man sollte das Buch also besser nicht im Café lesen, sonst gerät man womöglich in Gefahr, laut auszurufen und vor Ärger seinen Kaffee vom Tisch zu fegen.
... die Gesamtaussage des Buches mit in den Alltag nehmen und über seine eigenen Handlungen (und die seiner Mitmenschen) nachdenken. Dafür sorgt das Buch aber fast automatisch mit seiner provozierende, aber sensiblierenden Härte. Shida Bazyar ist ein wirkungsvoller Text gelungen, der unser Denken über Ausgrenzung, Vorurteile und Rassismus schärft und dazu beitragt, dass die darin geschilderten Geschichten und Erfahrungen nicht mehr das Leben von Menschen beeinträchtigt.
Das Buch:
Shida Bazyar: Drei Kameradinnen
erschienen bei Kiepenheuer & Witsch
Köln 2021
352 Seiten
Die Autorin ist am 24. März zu Gast im Ulla-Hahn-Haus in Monheim. Genaue Informationen zu der Veranstaltung finden Sie hier.
