Magazin

Buchempfehlung

Keine Angst vor großen Gefühlen!

Almuth Voß vom Literaturhaus Bonn mit „Kukum“.

Almuth Voß vom Literaturhaus Bonn entdeckt in der atemberaubenden Lebensgeschichte einer Auswandererin Parallelen zur heutigen Zeit.

In Deutschland kommen jedes Jahr mehr als zehntausend Neuerscheinungen auf den Markt. Wer kann da noch den Überblick behalten? Wir! Einmal im Monat empfehlen Literaturkenner*innen und Vielleser*innen aus dem Netzwerk Literatur Rheinland ein Buch, das sich lohnt. Warum? Das erfragt der Fragebogen.

Almuth Voß, Übersetzerin und Leiterin des Literaturhauses Bonn, empfiehlt für den Dezember Kukum von Michel Jean:

Worum geht es?

In seinem Roman „Kukum“ erzählt der Frankokanadier Michel Jean die atemberaubende Lebensgeschichte von Almanda Siméon, seiner Urgroßmutter. Um 1880 als Kleinkind von Irland nach Kanada ausgewandert, verliert sie beide Eltern an Typhus, noch bevor die kleine Familie in der Neuen Welt Fuß fassen kann. Im ländlich-frommen Québec wächst Almanda bei Pflegeeltern in kargen Verhältnissen auf. Mit 15 verliebt sie sich unsterblich in einen jungen indigenen Jäger, heiratet ihn, lernt seine Sprache und teilt künftig die Lebensweise seines Volkes, der Innu. Als sie 1977 beinahe hundertjährig stirbt, haben Kolonisierung und Industrialisierung deren ursprünglichen Lebensraum zerstört.

Und worum geht es wirklich?

So fern das alles scheinen mag – Almandas Leben ist von Themen und Entscheidungen geprägt, die auch uns aktuell und existentiell betreffen: Da ist der Freiheitsdrang der mutigen Waise, die die sogenannte Zivilisation zugunsten eines Lebens in der Wildnis verlässt. Die jagen und fischen lernt, und gleichzeitig auf die Schulbildung ihrer Kinder Wert legt. Die Umweltzerstörung und den unwiederbringlichen Wert der Natur am eigenen Leib erfährt, als die Jagdgebiete der nomadischen Ureinwohner okkupiert, ihre Wälder abgeholzt und sie selbst zur Sesshaftigkeit gezwungen werden. Da ist die selbstbewusste Frau, die allein in die ferne Stadt aufbricht und sich eine Audienz beim Ministerpräsidenten erkämpft, um für die Innu bessere Lebensbedingungen im Reservat zu fordern. Almanda lebt Diversität. Sie verbindet das Beste aus zwei Welten: Erbe und Riten der Indigenen sind ihr so lieb und so teuer wie die französischen Romane, auf die sie zeitlebens nicht verzichten möchte.

Welches Zitat gehört an den Kühlschrank gepinnt?

„Als Thomas am nächsten Tag ins Geschäft in der Hudson Bay gehen musste, fragte er mich, womit er mir eine Freude machen könnte, und ich antwortete: Bücher. Er, der weder lesen noch schreiben konnte, war fassungslos.

'Ich dachte an ein Kleid oder eine Halskette. Ein Sonnenschirm?'

'Ich würde im Herbst gern Bücher mit dort hinauf nehmen.'

Es gab keine Bücher auf den Regalen von Tommy Ross. Wir mussten mit dem Kanu nach Roberval fahren. Ich kam mit Romanen und einer Bibel zurück.“

Wo liest man dieses Buch am besten?

Vielleicht in der Natur, im Wald, an einem See? Oder im Familienkreis – vielleicht liest man es vor, zusammen mit Kindern und Jugendlichen. Und erinnert an die abendlichen Runden, in denen Almanda mit ihrem Clan um ein Feuer saß und den traditionellen Erzählungen der Ältesten lauschte …

Wer dieses Buch liest, sollte …?

… keine Angst vor großen Gefühlen haben! „Kukum“ verschont uns nicht mit Liebe, Schmerzen und Verlust. Dafür beschenkt es uns mit der Geschichte einer starken Frau. Ihr Urenkel Michel Jean hatte Tränen der Rührung in den Augen, als er sein Buch vor ein paar Wochen bei uns in Bonn vorstellte: „Wenn meine Kukum wüsste, dass ihre Geschichte jetzt in Europa gelesen wird!“ In Kanada ist Simons Roman längst Bestseller; auf Deutsch ist er, anlässlich des kanadischen Gastlandauftritts auf der Frankfurter Buchmesse 2021, im kleinen unabhängigen Wieser Verlag erschienen. Das Literaturhaus Bonn lädt alljährlich mehrere Gastland-Autor*innen und ihre Bücher in die Bundeskunsthalle ein: So kam die Geschichte der „Kukum“ zu uns ins Rheinland.

Das Buch:

Michel Jean: Kukum

aus dem Französischen von Michael von Killisch-Horn

erschienen im Wieser Verlag

Klagenfurt 2021

300 Seiten