Textstellen

„Kommen Sie“

Willi Achten über den Hürtgenwald in der Eifel.

Wir treffen Ottmar an der Kirche, in Vossenack. Ottmar nennt sich Guide. Ottmar läuft voraus, der Weg führt durch Wiesen, fällt dann steil hinab ins Tal.

„Die Amerikaner hatten kein gutes Kartenmaterial, haben die Wege breiter eingeschätzt, als sie waren. Deutsche Straßenkarten aus den Dreißigern ohne Höhenlinien“, sagt Ottmar und Heather schaut ihn an und schweigt.

Ottmar trägt einen Lederhut. Sein Gesicht ist schmal, die Haut spannt sich über den Jochbeinen. Er wirkt trainiert. Am Bauch ist kein Fett zu sehen. Seine Schritte federn, trotz seines Alters.

„Viele Panzer sind beim Versuch, die engen, schmierigen Schluchtenwege zu passieren, abgerutscht und die Hänge hinuntergestürzt. Kein Land für Panzer.“

Ottmar fährt sich durch seine Haare. Er streicht seine Tolle aus der Stirn. Er trägt grobe Bergstiefel und eine grüne Drillichhose. Er spricht die Wörter gedehnt aus, ein Singsang, und oft betont er sie auf der zweiten Silbe, was ungewöhnlich klingt. Heather schaut zu Boden, ihr Fuß fährt über den Felsen. Im Stein der Abdruck einer Panzerkette.

„Kommen Sie“, sagt Ottmar. „Das ist noch nichts.“

Er spricht wie jemand, der noch eine Sensation im Köcher hat. Er stiefelt uns voraus, stoppt plötzlich. Ein Kettenband steckt im Grund. Deutlich sind die Rollen und die Kettenglieder zu sehen, verwachsen mit dem Weg.

„Die Kette eines Sherman-Panzers“, sagt Ottmar.

Wir passieren eine Brücke, nehmen dann den Weg hangaufwärts.

„Genau hier wollten sie von Vossenack hinauf zum Dörfchen Schmidt. Wer es morgens eroberte, verlor es abends wieder an den Feind“, sagt Ottmar. Seine Schritte sind weit ausgreifend.

Heather bleibt stehen. Sie blickt in einen Fichtenwald.

„Lauft voraus“, sagt sie. „Ich hock mich schnell hin.“

Sie sagt es ohne Scheu. Stiefelt in die Schonung, läuft zwischen den weit auseinanderstehenden Stämmen und durch die Blaubeerbüsche in den Wald. Ihre rote Sommerjacke leuchtet im Grün.

Ottmar fährt herum.

„Lieber nicht“, ruft er. „Lassen Sie das!“

„Heather“, rufe ich.

Sie bleibt stehen, winkt mir zu und läuft weiter.

„Die Kampfmittelräumtruppen haben gute Arbeit in den letzten Jahrzehnten geleistet“, flüstert Ottmar. Er sagt es mehr zu sich selbst, wie eine Beschwörung. „Aber man kann nie wissen, es ist gefährlich, sich in die Büsche zu schlagen.“

Ich renne auf Heather zu, die zwischen den Stämmen eine Stelle sucht, an der sie ungestört ist. Bei jedem meiner Schritte, bei jedem Tritt ins Moos, in die Blaubeerbüsche, ist die Angst da.

„Bleiben Sie!“, schreit Ottmar.

Seine Stimme hallt zwischen den Bäumen auf. Seine Stimme klingt plötzlich alt, sie zerrt an mir. Ich zögere, kann jetzt nicht umdrehen und zu Ottmar zurücklaufen und Heather alleine lassen. Wie sähe das aus? Ein Akt der Feigheit. Ottmar blickt mich an, blickt auf Heather, die jetzt stehen bleibt, sich zu mir umdreht, einen Finger auf ihre Lippen legt. Dann sehe ich sie: Damhirsche, die zwischen den Stämmen hangaufwärts steigen. Ihr braunrotes Fell ist weiß gefleckt. Der dunkle Aalstrich entlang der Rückgratlinie ist gut zu erkennen. In der Luft liegt der Duft des Sommerwalds. Sie ziehen ohne Hast. Schließlich bleiben sie stehen, halten ihre Nasen in den Wind und heben fast ruckartig den Kopf an. Ihre Ohren sind in unsere Richtung gerichtet. Dann springen sie, stoßen sich mit allen vier Läufen vom Boden ab, landen fast an der Stelle, an der sie abgesprungen sind, als sei der Schreck ihnen in die Glieder gefahren, eine Art Tanz, bevor sie davonhetzen mit aufgestellten Schwänzen, die Spiegel, die hellen Flecke am Hinterteil leuchten. Ein Bellen ist zu hören, panisch, stoßweise, als hätten die Hirschkühe sich in Hunde verwandelt. Ein Knall stößt in dieses Bellen, löscht es, löscht unsere Blicke, eine Fontäne aus Pulverdampf und Dreck hüllt die Herde ein, eine schwarze Wolke wabert davon, dünnt aus. Starr vor Schreck schauen wir ihr nach – ein Geist, der in den Bäumen hängt, zu den Wipfeln zieht, ein Luftteppich aus Schmerz, der aus der Vergangenheit zu uns herüberweht, den wir riechen, in seiner ganzen Schäbigkeit, der immer noch tötet, nach all den Jahren, seinen Dienst nicht quittiert hat, der vor sich hin rostend im Boden liegt, wartend auf einen Wanderer, eine Hirschkuh. Blutig der Stumpf, eine Fontäne dunklen Bluts speisend, das sich über den Boden wirft wie ein Tuch, das sich ausdehnt und wächst, in den Wald hinein, auf Heather zu, während aus der Flanke das Gedärm rutscht, ein Lindwurm eingewoben ins Gekröse, blau schimmernd. Das Tier schreit, rutscht auf allen Vieren über den Boden, will aufstehen, will davonlaufen, zu den anderen Tieren, die hundert Meter entfernt stehen, wie unter einem Bann auf die Lichtung schauen. Die Augen der Hirschkuh sind Kugeln, die aus den Höhlen treten, die sich dehnen in den letzten Rest Welt und in die letzte Luft hinein. Niemand von uns kann zu Hilfe eilen. Keiner darf sich rühren. Auch Ottmar muss bleiben, wo er ist.

Er schreit in den Wald hinein: „Nicht bewegen. Bleibt, wo ihr seid. Ich hole Hilfe.“

Seine Worte schallen durch den Wald, immer wieder wiederholt er sie, rennend, schon auf der Brücke, dürrer werdend, die Stimme, aber die Entfernung nimmt ihr nicht die Schärfe. Heather bewegt sich nicht. Ich bewege mich nicht. Ich schaue auf ihren Rücken, das Rot der Sommerjacke, ein Fliegenpilzrot, ein Männlein, das im Walde steht, ganz still und stumm, es hat von lauter Purpur ein Mäntlein um, und ich spüre, dass ich schreien möchte wie das Tier, in diesem fucking forest. It hurts in Hurtgenwald, das größte Desaster der amerikanischen Truppen im Zweiten Weltkrieg. Wir tauschen keinen Blick. Lauschen den jagenden Schritten Ottmars, die sich verlieren, nicht aber verliert sich das Wimmern der Hirschkuh, dem die Herde zuhört, mit aufgestellten Ohren, als wollten sie keinen Laut verpassen, und sie schließlich, leise, klagend, in einen Ton fallen, einen Gesang, der sie zu dem Tier zurücktreibt, einige wenige Meter, bis eine Witterung sie innehalten lässt. Wir, der Geruch unserer Angst, unseres Schweißes, lässt sie auf den letzten Metern verharren, lässt sie trippeln, von einem Huf auf den anderen steigen und schließlich davongehen – eine stille Herde, in der kein Tier den Kopf mehr wendet.

Vita

Willi Achten wuchs in einem Dorf am Niederrhein auf, unweit des Naturparks Maas-Schwalm-Nette, was ihn eine besondere Affinität zu Landschaften und Phänomenen wie Licht, Stille und Resonanzerfahrungen in der Natur ausprägen ließ, die immer wieder in seinen Texten Niederschlag finden. Heute lebt Achten in der Nähe von Aachen im niederländischen Vaals. Eine andere Landschaft, in die schon die Eifel hineinreicht, die er oft zu Fuß oder mit dem Rad durchstreift. Auch den Hürtgenwald lernte er kennen. Kaum eine Region in NRW ist so getränkt von den Schrecken des Krieges. Sehr eindringlich nachzulesen etwa bei Frédéric Beigbeder.