Textstellen

Fallgesänge

Gunther Geltinger über den Eifeler Dreimühlen-Wasserfall an der Grenze von NRW.

Es gäbe Gründe, hier zu schreiben, dass der Dreimühlen-Wasserfall in Nordrhein-Westfalen liegt. Über einen sechs Meter hohen Vorsprung aus Sinterkalk ergießt sich der Mühlenbach in den Ahbach, der sieben Kilometer weiter nördlich über die Bundeslandgrenze fließt, in den Landkreis Euskirchen, wo er schließlich in die Ahr mündet. Zwischen den Gemeinden Ahütte und Nohn befindet sich der Wasserfall in Rheinland-Pfalz und somit außerhalb dieser literarischen Landkarte in einem unbesungenen Nirgendwo, und zur Verteidigung seines Anrechts auf eine Huldigung an dieser Stelle kann ich nur die Literatur selbst anführen, die diesen Grenzschmuggel legitimieren möge. Denn selbst der nüchternste Wissenschaftler wäre versucht, die gefiederten Laubmoose, die den Kalkfelsen überwuchern, einer anderen, exotischeren Welt zuzuschreiben. Könnten die Wasserperlen, die sich an den sommers wie winters in schillernden Grün- und Gelbtönen leuchtenden Fäden des Cratoneuron commutatums herabschnüren, nicht genauso gut ein Nebengeriesel auf den Klippen von Iguaçu oder der Victoriafälle sein – ein Blick auf das Beiläufige am Rand der großen Schöpfungswerke dieser Erde?

Die drei berühmtesten Wasserfälle der Welt – auch die Niagarafälle seien hier erwähnt – liegen jeweils auf Landesgrenzen. Brasilien und Argentinien, Simbabwe und Sambia, Kanada und die USA müssen sich die Aussicht auf das gischtende Spektakel teilen, ein Umstand, der von den Machtansprüchen einstiger Besitzer und Besatzer rührt, während die Flüsse schon immer nur sich selbst gehörten. Auch der Ahbach stellte in Höhe des Wasserfalls eine Grenze dar: Bis 1932 stießen hier die Landkreise Daun und Adenau aufeinander. Letzterer ging später im Kreis Ahrweiler auf, der wiederum bis 1814 zur Provinz Großherzogtum Niederrhein gehörte und nach 1822 Teil der preußischen Rheinprovinz wurde, die von Saarbrücken bis Kleve reichte. Im Zuge der geografischen Neuordnung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg fassten die Alliierten die niederrheinischen Gebiete zu Nordrhein-Westfalen zusammen, aus den mittelrheinischen ging das Bundesland Rheinland-Pfalz hervor. Und so, wie sich die Rheinländer einst als „Musspreußen“ fühlten – eine Geisteshaltung, die sich im Kölner Karneval ausdrückt –, mag auch der Dreimühlen-Wasserfall heute ein Muss-Rheinland-Pfälzer sein. Ich sollte sein Rauschen beschreiben, ihn am besten selbst sprechen lassen, um etwas über sein Zugehörigkeitsgefühl zu erfahren. Zehn Kilometer östlich verläuft das Vinxtbachtal, das nicht nur das Römische Reich in die Provinzen Germania Superior mit Verwaltungssitz in Mainz und Germania Inferior mit der „Hauptstadt“ Köln teilte, sondern auch heute noch eine Sprachgrenze markiert: Südlich spricht man moselfränkische, nördlich ripuarische Dialekte, zu denen auch Kölsch gehört. An dieser Stelle müsste der Siegwasserfall zu Wort kommen, der einzige Wasserfall im NRW-Gebiet des Rheinlands; vielleicht würde sein Klang mir verraten, welchen Ton ich hier anschlagen soll. Beide Wasserfälle verbindet nämlich der gleiche Ursprung: Es gäbe sie nicht ohne die Eisenbahn, die ab der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts das gebirgige Umland verkehrstechnisch an das Rheintal anschließen sollte. Beim Bau der Trasse Köln-Gießen wurde bei Schladern eine Schleife der Sieg trockengelegt; seitdem überwindet der umgeleitete Fluss das so entstandene Gefälle von vier Metern über mehrere Stufen. Nicht die poetischste Beschreibung könnte darüber hinwegtäuschen, dass der im Tourismusjargon als „Naturschauspiel“ gepriesene Wasserfall in Wahrheit ein Abfallprodukt der Industrialisierung ist und zudem nichts weiter als ein paar Stromschnellen. Der Mühlenbach hingegen fällt frei; die Erbauer der Mittleren Ahrtalbahn dränagierten sein Quellgebiet und leiteten das gesammelte Wasser unter dem Bahnkörper hindurch – mit weitreichenden Folgen. Die Bahnstrecke wurde 1973 wieder stillgelegt, der Wasserfall aber ist gewachsen – bis heute um zwölf Meter. Ausgefälltes Calciumkarbonat überkrustet die schnellwachsenden Moose und bildet neues Tuffgestein, sodass die Fallkanten fortwährend in Fließrichtung wandern. Während die größten Wasserfälle der Welt langsam verkümmern, hat Dreimühlen die Superlative noch vor sich. 1954 verringerte ein gewaltiger Felssturz im amerikanischen Teil der Niagarafälle deren Höhe fast um die Hälfte, und der Sambesi ist dabei, die Schlucht, in die er stürzt, zum neunten Mal in seiner Entwicklungsgeschichte stromaufwärts zu verlagern – ob die Victoriafälle in ferner Zukunft noch immer die Grenze zwischen Sambia und Simbabwe bilden werden, ja ob es diese Länder in ihrer heutigen Form überhaupt noch geben wird, ist ungewiss. In siebzigtausend Jahren könnte die Erosionsarbeit des afrikanischen Stromes auf härteren Basalt treffen und von den hundertsieben Meter hohen Fällen ein paar unauffällige Katarakte übrig lassen, und auch die Sieg wird ihr überschätztes Hindernis glattgeschliffen haben und nur noch leise auf Kölsch vor sich hinmurmeln. Der Dreimühlen-Wasserfall aber wird im Jahr 72021 die Bundeslandgrenze erreicht haben, und ob er dann rheinland-pfälzisch oder nordrhein-westfälisch besungen werden soll, wird eine geologische, politische oder sogar moralische Frage sein, zu der die Literatur viel zu sagen hätte, während ich für immer schweige.

Vita

Gunther Geltinger wurde 1974 in Unterfranken geboren. Als Kind entdeckte er beim Wandern in der Rhön einen Wasserfall, über den er seinen ersten Text schrieb. Später studierte er an der Kunsthochschule für Medien in Köln, wo er heute als Schriftsteller lebt. Wenn er das Rheinland nicht schreibend erkundet, tut er das zu Fuß – dabei stieß er auf den Ort, über den er hier schreibt.