Textstellen

Die Bank

Hermann-Josef Schüren über eine Mitfahrbank im niederrheinischen Örtchen Schaephuysen und das Rätsel um zwei verschwundene Mädchen.

Hin und wieder kehre ich in mein Kindheitsdorf zurück, um mich zu verinnern, und am besten gelingt mir dies auf der Mitfahrbank, die neben der Bundesstraße 60 steht, schräg gegenüber dem Kirchplatz mit dem Dorfbrunnen, den natürlich Motive aus der Landwirtschaft schmücken. Die Bank trägt die Aufschrift ‚Wer hier sitzt, möchte nach Vluyn‘ und ist eine Reaktion der Schaephuysener auf die mangelhaften öffentlichen Verkehrsmittel. Es ist aber auch der ideale Ort sich zu verlieren an die Unwahrscheinlichkeiten des Lebens. Sitze ich hier, verändere und wundere ich mich, dass ich erkannt werde, so ganz verloren bin ich an meine verstörende Hingabe, die es mir ermöglicht, die Spur der verschwundenen Mädchen aufzunehmen.

Im Dorf haben einige Hausfassaden Risse, weil die Zechen ihre unterirdischen Tentakel kilometerweit ausgestreckt haben und die geplünderten Stollen zusammenfallen wie Gräber. Drehe ich den Kopf nach links, ahne ich den Höhenzug, der unmittelbar hinter dem Dorf beginnt. Er ist ein Überbleibsel aus der Eiszeit und als Kind habe ich gewünscht, das Eis würde zurückkehren, den Berg weiterschieben und das Dorf unter sich begraben. Inzwischen steigt im Sommer Staub von den Äckern auf und irgendwann könnte die Endmoräne als Binnendeich die Wassermassen der Nordsee zurückhalten, die unzweifelhaft kommen werden, wenn es so weiter geht. Dann wird es statt Getreide-, Rüben-, Kartoffel- und Maisfeldern auf der Aldekerker Platte nur noch Reisfelder geben, bis auch diese versinken. In Maisfeldern kann man sich übrigens leicht verirren, aber die Mädchen sind nie dort gefunden worden, auch zur Erntezeit nicht, wenn Männer vor den Mähmaschinen hergehen, um das gefährdete Wild zu verscheuchen.

Der bewaldete Höhenzug ist ein ausgewiesenes Naherholungsgebiet mit Wanderwegen, ehemaliger Mühle und dem Wildgehege am Oermter Berg, der das Ziel familiärer Sonntagsausflüge ist, an denen Jugendliche grundsätzlich kein Interesse haben. Ich muss mir die Gesichter und Namen der Mädchen ausmalen, wie inzwischen die der meisten Menschen hier, wenn sie anhalten und fragen, ob sie mich mitnehmen sollen. Aber ich will nirgendwohin, nur hier sitzen und imaginieren, wie die Mädchen aufbrechen, zunächst über die Straßen mit den strahlenden Katzenaugen getragen werden, bis Moers und von dort weiter, bis sie im verrufenen Duisburg auf die große Wasserstraße stoßen, die ins Meer mündet, das alle Möglichkeiten eröffnet. Sie müssen sicher nicht lange warten, jung und strahlend wie sie sind, mit engen Jeans, bunten Pullovern, weißen Turnschuhen und ein wenig Taschengeld bewaffnet.

Die ganze Sache ist ein Rätsel, das im Dorf für Gesprächsstoff sorgt, wenn die Bewohner nach der Sonntagsmesse zusammenstehen und die Kirchenglocken Ratlosigkeit verbreiten, obwohl die Welt hier ansonsten noch in Ordnung ist. Aber diese Mädchen, ein schönes Paar zweifellos, begafft und bestaunt, wenn sie Hand in Hand auf dem Weg zur Bäckerei sind, Knie an Knie in einer Kirchenbank sitzen oder Mund an Mund auf der Fensterbank ihrer Wohnung, sind verstörend und gemahnen unterschwellig an verschwiegene Mängel. Es ist nicht mehr wie ehedem, aber die Reste ländlicher Traditionen halten sich hartnäckig, weil sie sich in die Tiefen des Unterbewusstseins eingegraben haben. Man findet sich gemeinhin damit ab und zuckt nur bisweilen erschrocken zusammen, wie ich in diesem Augenblick, da die Mädchen tatsächlich auf der anderen Straßenseite auftauchen, leichtfüßig die Fahrbahn überqueren und selbstverständlich mache ich sofort die Bank frei, so dass ihre Geschichte am Ende dieses Satzes beginnen könnte.

Vita

Hermann-Josef Schüren ist als mittlerer von fünf Bauernsöhnen im kleinen niederrheinischen Dorf Saelhuysen geboren und aufgewachsen. Sein Abitur machte er am Collegium Augustinianum Gaesdonck bei Goch, danach studierte er Germanistik und Philosophie in Aachen, wo er heute als Schriftsteller und Lehrer lebt. Er schreibt Lyrik und Prosa für Kinder und Erwachsene. Zuletzt erschien sein Roman Junge Stiere.