Textstellen

Der Wind

Diana Menschig lässt sich über den Wall um die Altstadt von Dülken treiben.

Hör dem Wind zu, wenn er an der alten Stadtmauer über das Kopfsteinpflaster streicht. Er erzählt dir von den Zeiten, die waren, und denen, die noch kommen werden.

Du lässt das Rathaus hinter dir und folgst dem Wind durch die enge Gasse, den Westwall entlang, einst Teil der Befestigung zum Schutze der kleinen Stadt errichtet. In den alten Backsteinen wispert der Wind dir zu, haucht sanft durch Ritzen und scheint harmlos.

Der Wall schützt nichts mehr: Du gehst in einer guten Viertelstunde vollständig um die Altstadt herum, vielleicht in einer halben oder Dreiviertelstunde, wenn du dir Zeit lässt und innehältst. Den Geschichten lauschst. Es ist längst nicht alles schön – Wo hat der Krieg denn keine Wunden geschlagen, die mit Bausünden gefüllt wurden? –, aber auch das Alte ist mancherorts ein wenig schäbig, verkommen.

Und doch spürst du die Magie. Denn der Wind streicht durch ein paar Grasbüschel, die sich trotzig zwischen Mauer und Pflastersteinen behaupten. Du beugst dich hinab, und wenn du dann aufblickst, siehst du den Kirchturm aus einer ganz neuen Perspektive. Du stellst dir vor, wie die Menschen früher dort hinaufgeschaut haben. Ängstlich? Vertrauensvoll? Der Wind weiß es, er fegt hinauf bis zur Kirchturmspitze. Dort oben ist sein Reich. Er knattert durch die Bannerfahnen, fällt zurück in die Kronen der Bäume auf dem Marktplatz und spielt dort mit den Blättern.

Lausche ihm, er kennt sie alle aus den Zeiten, die waren, er kennt die Soldaten und Kaufleute und Kirchenmänner, oui c'est comme ça, sie haben ihre Spuren und Geschichten hinterlassen. Auch die Frauen, nur noch viel unsichtbarer. Lausche hin. Der Wind wird dir davon erzählen.

Zurück auf dem Wall, nun der östliche in Richtung Süden, streift der Wind wieder über die Reste der Stadtmauer. Dort, nahe dem einstigen Kloster, lebte ein Gastwirt, dessen Enkel einmal ein bedeutender Germanistikprofessor und Sprachforscher sein würde. Der die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Dialekte erforschen würde. Bedeutsam? Für Menschen vermutlich, nicht für den Wind. Denn der Wind flüstert in allen Sprachen. Er kennt keine Grenzen und lässt sich nur schwer aufhalten. Hast du schon einmal in einem Sturm gestanden und geatmet? Dann weißt du, was ich meine.

Du bist wieder am Anfang deiner Runde angekommen. Der Wind streicht um den runden Gefangenenturm. Du weißt, dass der Turm gar nicht wirklich alt ist, sondern erst vor wenigen Jahrzehnten wiederaufgebaut wurde. Als Kind hat dich das traurig gemacht. Erwachsen geworden fragst du dich, warum auch du danach strebst, das Alte zu schützen, dich daran zu erinnern, es zu bewahren. Dazu schweigt der Wind. Denn das ist eine Sache der Menschen.

Vor den einstigen Stadttoren lagen die Windmühlen. Der Wind kennt sie gut. Er würde dich gern dorthin mitnehmen. Aber das zu einer Zeit, die noch kommen wird.

Vita

Diana Menschig, geboren in Viersen, lebt am Niederrhein und schreibt dort Krimis, fantastische und historische Romane sowie Kurzgeschichten. Vielleicht liegt das Schreiben in ihren Genen, denn sie ist mit dem erwähnten Germanistikprofessor aus Dülken weitläufig verwandt. Wenn die Wolken sich in grauen Schichten bis an den Horizont über die Rübenäcker türmen, lebt sie sogar gern am Niederrhein. Dann hört sie dem Wind samt seinen Geistern zu, die ihr Geschichten und Wunder zutragen.