Textstellen

Baden verboten

Christian Bartel über ein monströses Treiben im Bonner Dornheckensee.

„Kann man hier baden?“, fragt der junge Mann, aber meine Antwort wartet er nicht ab.

Er entkleidet sich und watet ins frühlingskalte Wasser. Bald verliert er den Grund unter den Füßen, der See gewinnt schnell an Tiefe.

Ich nehme mein Handtuch vom Baden-Verboten-Schild und schaue zu, wie der Schwimmer mit kräftigen Zügen der Mitte des Sees zustrebt. Auf der anderen Seite erheben sich kirchenhohe Basaltwände aus dem Wasser, die von feinen Rissen durchzogen sind. Manchmal stürzen tonnenschwere Felsnasen ab, dabei sehen die Basaltwände so solide aus wie die Fassade des Kölner Doms.

Das aufgerauhte Wasser glitzert in der Sonne, die Oberfläche erwärmt sich, doch aus den Tiefen zerrt auch im Hochsommer lähmende Kälte an den Gliedern. Der Schwimmer gleitet über einen Abgrund, dessen Grund und Geheimnisse nicht einmal zu erahnen sind. 

Am Seegrund sollen noch Loren stehen, mit denen Basalt abtransportiert wurde, bevor man Steinbruch aufgab. Eine Fokker sei im Krieg in den See gestürzt, wahlweise soll ein amerikanischer Panzer von den Klippen gestürzt sein. Jeder Einheimische erzählt anderes, doch ich weiß, was sich wirklich in den gefluteten Klüften verbirgt. Ich beobachte den einsamen Schwimmer, der durch den wassergefüllten Kessel strampelt, plötzlich verzerrt sich seine Miene.

Da bist du ja endlich. Ich weiß noch, wie klein du warst, als ich dich zum ersten Mal sah.

Nicht größer als ein Fingernagel und durchsichtig, aber schon damals warst du hungrig. Seither sind Jahrzehnte vergangen, und hungrig bist du noch immer, dabei habe ich dich immer  gefüttert.

Mit einem Hund fing es an. „Er hat sich losgerissen“, behauptete ich. Man glaubte mir, doch vertraute man mir bald keine Hunde mehr an. Katzen waren einfacher, die verschwinden immer mal wieder, aber von Katzen wurdest du einfach nicht satt.

Mein Biologie-Buch beharrte noch darauf, dass du dich von Einzellern ernährst, als ich eine Wildschweinrotte über die Klippen trieb. Bald warst du groß wie eine Kuh und ebenso hungrig. Aber Kühe sind schwer aufzutreiben und noch schwerer in einen See zu treiben.   

Die Menschen kamen immer freiwillig. Wie Mücken werden sie vom Wasser angezogen. Ich musste nur dafür sorgen, dass einige von ihrem Bad nicht zurückkehrten. 

Es half, dass der See schon immer Opfer gefordert hatte: die Unvorsichtigen, die Pechvögel, die Betrunkenen und die Traurigen, die freiwillig von der Klippe sprangen.

Es half auch, dass der See schon immer einen schlechten Ruf hatte.

Ein Schwulenstrich, geiferten die Leute aus dem Dorf. Ein Schandfleck, ereiferten sie sich, diese Nackten und diese Kiffer. Wenn von denen ein paar fehlten, störte sie das nicht so. Nur alle paar Jahr spendierte ich dir einen Pilzsammler, der sich zu nah an die Abbruchkante gewagt hatte. 

Du wurdest immer größer und hungriger, während ich älter und schwächer wurde.

Ich weiß nicht, wie lange ich noch für dich sorgen kann.

„Hatten Sie gewusst, dass es in diesem See eine besondere Süßwasserqualle gibt?“, höre ich eine Stimme neben mir. „Craspedacusta sowerbii“, antworte ich. Ich habe deinen Namen noch nie laut ausgesprochen.

„Nur im Sommer bildet der Polyp eine sichtbare Medusa aus, gesehen habe ich aber keine“, erklärt der Schwimmer. Ich starre ihn an. Wie konnte er dir entkommen?   

„Dabei jagt sie in der Badesaison!“, antworte ich.

Der junge Mann lacht und erzählt begeistert von Süßwassermedusen. 

Ich verstehe. Du hast ihn nicht verschont, du hast ihn ausgewählt. Er soll mein Nachfolger sein. Ich falte meine Kleidung zu einem ordentlichen Stapel, bevor ich mit unsicheren Schritten ins Wasser steige. „Sind Sie sicher, dass Sie hier schwimmen wollen?“, fragt der Mann, als er meinen hinfälligen Körper sieht. „Ein herrlicher See, aber nicht ganz ungefährlich. Ich hätte beinahe einen Krampf bekommen.“

„Es ist alles gut“, antworte ich und schwimme dir entgegen. Gleich wird er die Medusa sehen.

Vita

Christian Bartel wurde 1975 in Bonn geboren und arbeitet als freier Autor. Er schreibt Satiren und Geschichten, 2018 wurde er dafür mit dem Ben Witter-Preis ausgezeichnet. Daneben verdingt er sich als freier Redakteur und verfasst Radio-Geschichten für Erwachsene und Kinder. Christian Bartel lebt mal auf dieser, mal auf jener Rheinseite, aber ganz gern in Bonn.