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Alte Feuerwache und unsere Sehnsucht

Doğan Akhanlı über das Bürgerzentrum Alte Feuerwache im Kölner Agnesviertel.

Ende 1991 verließ ich mit meinem Sohn die Türkei. Wir landeten gegen Mitternacht am Flughafen Köln/Bonn und wurden dort von einem befreundeten Pärchen empfangen, das mir auch zur Flucht verholfen hatten. Am nächsten Tag zeigten sie uns ein paar der Kölner Sehenswürdigkeiten. Ich erinnere mich noch gut, wie wir zum ersten Mal mit der Straßenbahn zum Neumarkt fuhren, um von dort über die Schildergasse zum Kölner Dom zu laufen. Ein Straßenmusiker spielte gerade das Orchesterstück Bolero auf seinem Saxophon. Wir blieben stehen und hörten bis zum Ende zu, bevor wir in Richtung Dom weiterzogen. Von dort aus zum Eigelstein. Angekommen an der Alten Feuerwache, sprang mir sofort das an auf die Wand gemalte Segelschiff ins Auge, und ein Baum, in dessen Krone ein Gedicht des türkischen Dichters Nâzım Hikmet geschrieben stand. Zweisprachig!

Ich las:
Leben! Einzeln und frei wie ein Baum
und brüderlich wie ein Wald.
Das ist unsere Sehnsucht.

Wir gingen hinein. Im Lokal der Alten Feuerwache winkte uns eine Frau zu, die an einem Tisch zur Hofseite raus saß. Mein guter Freund stellte uns einander vor, und ich erfuhr, dass sie die Veranstaltungsleiterin war. Sie freute sich, uns zu sehen, und voller Euphorie sprach sie drauflos, während ich nur höflich lächelte. Sie unterhielten sich auf Deutsch, aber ich hörte aus dem Gespräch bestimmte Worte heraus, die mir bekannt vorkamen, wie z.B. Kommunist, Untergrund, Partei, Organisation, Junta, Flüchtling, Exil. Ich nahm an, dass mein Freund die Veranstaltungsleiterin über meine Situation informierte, dass ich als Kommunist in der Junta- Zeit im Gefängnis saß, die Türkei verlassen musste und nun hier im Exil sei.

Die Beziehung zwischen mir und der Alten Feuerwache entwickelte und verfestigte sich mit der Zeit. Nach meiner Anerkennung als Geflüchteter nahm ich meinen ersten Job beim Menschenrechtsverein Türkei-Deutschland auf, welcher in der Alten Feuerwache ansässig ist.  Acht Jahre Später startete ich dort eine eigene Veranstaltungsreihe mit dem Titel „Genozid und Gedanken“.

Jede dieser Veranstaltungen fand im Großen Saal der Feuerwache statt und war stets gut besucht. Die Besucher kamen aus unterschiedlichsten politischen Kreisen: Türkische Nationalisten, türkische Linke, gläubige, fromme Armenier, Aramäer, Kurden, nicht zuletzt Deutsche.

Obwohl die türkischen nationalistischen Teilnehmer ziemlich aggressiv und bedrohlich agierten, verliefen die Veranstaltungen friedlich. Das waren ganz besondere Begegnungen, die uns zeigten, dass es möglich ist, trotz der historischen und aktuellen Konflikte miteinander reden zu können. Übrigens fanden auch meine ersten Lesungen hier statt. Zunächst auf Türkisch und später auf Deutsch.

20 Jahre später, im August 2010, flog ich in die Türkei und wurde gleich bei meiner Ankunft in Istanbul festgenommen. Dass während meiner Haftzeit in der Alten Feuerwache mehrere Solidaritätsveranstaltungen stattfanden, erfuhr ich nicht nur durch meine Rechtsanwälte, sondern auch durch zahlreiche Briefe, die mich aus Köln erreichten. Schließlich wurde ich freigelassen und nach Deutschland abgeschoben.

Meine Rückkehrparty fand am 5. Februar 2011 statt. Ich finde, Köln ist eine Stadt, die eine gewisse Neigung hat, auch Politisches in eine Feier zu verwandeln. Um teilzunehmen, fuhr ich, wie sonst auch, mit dem Fahrrad zur Alten Feuerwache. Bevor ich das Lokal betrat, wünschte ich mir, die Veranstaltungsleiterin dort anzutreffen. Ich schaute mich um, und sah mit großer Freude, dass sie an einem der Tische zur Hofseite raus saß, wo sie 20 Jahre zuvor gesessen hatte.

Vita

Doğan Akhanlı, geboren 1957 in der Türkei, war Schriftsteller und Menschenrechtler. Er lebte ab 1992 in Köln, wo er 2021 starb. Er schrieb hauptsächlich Romane und Theaterstücke und wurde unter anderem mit dem Europäischen Toleranzpreis für Menschenrechte sowie der Goethe-Medaille ausgezeichnet.