Hier schreiben im Wechsel Autor:innen aus dem Rheinland über Sätze, die ihnen hängengeblieben sind. Heute: Ulrike Anna Bleier.
Neulich sah ich eine Doku, in der es um Formen digitaler Kontaktaufnahme mit den Ahnen ging. Der Film hieß Eternal You. Beinahe hätte ich es nicht ins Kino geschafft, weil die Bahn ewig nicht kam. Verrückt, dachte ich, die Internetleitung ins Totenreich steht, aber die Verbindung von Köln- Mülheim nach Köln-Hansaring lässt noch immer zu wünschen übrig. Aber egal. Eternal You war toll, und als ich zuhause war, probierte ich gleich die App Hereafter (Jenseits) aus. Ich eröffnete einen Account und das Jenseits forderte mich auf, ein Audiofile hochzuladen, um meine Erinnerungen zu speichern. Wenn ich tot bin, können meine Hinterbliebenen mit mir chatten. Mein virtuelles Ich wird sich aus den Geschichten speisen, die ich in der App hochgeladen habe. Die KI wird die Besonderheiten meines Schreibens und die Eckdaten meines Lebens so verwursten, dass es sich für mein Gegenüber im Diesseits anfühlt, als würde es mit meinen realen Ich aus dem Jenseits chatten.
„ Im Nachlass der nach langer Krankheit verstorbenen Dichterin Marie T. Martin findet sich ein Brief an das 'liebe Ich' “
Ungefähr vor fünfzehn Jahren schenkte ich meinem Vater einen Kassettenrekorder und sechs BASF Chrome II Kassetten und bat ihn, seine Lebenserinnerungen aufzunehmen, ich würde dann ein Buch daraus machen. Monatelang war er mit den Aufnahmen beschäftigt und meine Mutter versicherte mir, die Erinnerung an sein vergangenes Ich habe ihn aus der Depression gerissen. Er hatte die Kassetten mit einer Pedanterie besprochen, die die Ernsthaftigkeit dieser Unternehmung deutlich machte. Noch zu seinen Lebzeiten hörte ich die Aufnahmen ab und transkribierte sie. Ich war natürlich sehr gespannt, was er über mich sagen würde, über meine Geburt, die dramatisch war, über meinen Übertritt ins Gymnasium, worauf er stolz war, über mein Studium, für das ich nach Köln gegangen war. Doch in all diesen 540 Minuten komme kein einziges Mal ich vor. Kurz darauf starb mein Vater und seitdem habe ich die Kassetten nie wieder angehört.
Im Nachlass der nach langer Krankheit verstorbenen Dichterin Marie T. Martin findet sich ein Brief an das „liebe Ich“. Sie bittet darum, ihr zu schreiben, wenn es 13 Jahre alt ist, und ihr zu sagen, warum es manchmal das Gefühl hat, aus der Welt gefallen zu sein.
Der französische Fotograf und Schriftsteller Edouard Levé erzählte in seinem Roman Selbstmord von einem Abschiedsbrief, den ein Mann seinem besten Freund hinterlässt, bevor er sich nach einem Tennismatch das Leben nimmt. Am Ende stellt sich heraus, es war der beste Freund selbst, der diesen Brief hinterließ, das Du war ein Ich. Doch nicht nur der Protagonist, auch der Autor des Buches beging, nachdem er das Manuskript an seinen Verleger geschickt hatte, Suizid. Aus dem Ich war wieder ein Du geworden.
„ Ich war nicht Thema seiner Erinnerung, ich war sein Gegenüber. “
In der Doku Eternal You erklärt eine Frau, sie wolle gar nicht mit jemandem chatten, der möglicherweise in der Hölle schmore und ihr von dort aus Nachrichten schicke. Und tatsächlich gebe es, so der Betreiber der App, immer wieder Fälle, in denen die Verstorbenen nicht gerade feinfühlig mit der Trauer ihrer Hinterbliebenen umgingen.
Ich war gekränkt, dass mein Vater mich nicht erwähnt hatte in seinen Aufzeichnungen, und ich brauchte einige Jahre, um zu verstehen, warum: Der gesamte Inhalt der Kassetten war ja an mich gerichtet. Mein Vater musste mir nicht von meiner Geburt erzählen, ich wusste schließlich, dass ich geboren wurde, und ich wusste auch das mit dem Gymnasium und dem Studium. Ich war nicht Thema seiner Erinnerung, ich war sein Gegenüber. Sein bester Freund, seine Verlegerin, sein 13- jähriges Ich.
Vielleicht ist das Entscheidende an diesen Erinnerungen nicht, dass sie aus dem Jenseits kommen, sondern dass sie ins Jenseits geschrieben werden. Es muss tröstlich sein, an ein zukünftiges Gegenüber zu schreiben. Man hinterlässt nicht nur etwas, man nimmt auch etwas mit. Man nimmt alles mit, die Vergangenheit und die Zukunft. Sie glaube, die Zeit sei wie eine Kugel, auf der man in alle Richtungen gehen kann, schreibt Marie T. Martin.
Wenn das stimmt, wäre die Raumzeit positiv gekrümmt, nicht negativ. Dann wäre alle Zeit miteinander verbunden und wir hätten nichts zu befürchten.
Nichts außer den Fragen aus dem Diesseits.
In der kostenlosen Version von Hereafter kann ich zwei Stories aufnehmen und drei Fotos hochladen. Auf Wunsch promptet das Jenseits Fragen, um mein Erinnerungsvermögen anzukurbeln.
The first time I quit a job was...
Show me another.
Alright, what about this
If you were standing in front of the house where I grew up, you would see...
Show me another.
Sure, try this one
I sometimes struggled to get along with my dad because...
Ulrike Anna Bleier lebt als Autorin in Köln. Zuletzt erschienen die Romane "Bushaltestelle" (2018) und "Spukhafte Fernwirkung" (2022, beide Lichtung Verlag).