In Deutschland kommen jedes Jahr mehr als zehntausend Neuerscheinungen auf den Markt. Wer kann da noch den Überblick behalten? Wir! Einmal im Monat empfehlen Literaturkenner:innen und Vielleser:innen aus unserem Netzwerk ein Buch, das sich lohnt. Warum? Das beantwortet der Fragebogen.
Im Oktober liest Susanne Meinel von der Kultur-Agentur Projektkontor in Köln Das Lächeln des Diktators von Bachtyar Ali.
Das Lächeln des Diktators ist eine kleine, feine Essay-Sammlung mit sehr klugen Gedanken über den Orient, das Lesen, Bücher, (Mutter-)Sprache … Alle Texte eint, dass sie auf für mich oft überraschende Weise hinterfragen, was eine friedliche und demokratische Entwicklung, man könnte auch sagen „die Aufklärung“, im Orient verhindert.
Insbesondere im titelgebenden Essay seziert Ali die unterschiedlichen Facetten des Lachens, seine subversive Kraft, aber auch das Macht entfaltende Lachen der Diktatoren, das für ihn direkt aus der Hölle kommt. Auf einem kurzen und sehr prägnanten Ritt durch die Kulturgeschichte des Lachens lernt man so viel über die Funktionsweise diktatorischer Systeme, dass man ganz aus der Puste kommt.
Auch mit sehr persönlichen Erlebnissen schildert Ali die Entwicklungen der Moderne im Orient, die nur eine kurze säkulare Phase kannte. Am meisten berührt hat mich der letzte Essay, „Erinnerungen eines Lesers“, in dem Ali schildert, wie groß die Angst vor Büchern in Diktaturen ist, welch große Gefahr Büchern und insbesondere Literatur zugeschrieben wird. Er und alle seine Freunde haben im Laufe ihres Lebens mindestens einmal ihre Bibliothek verloren, auf der Flucht spielen immer auch Bücher und Buchhandlungen eine wichtige Rolle. Das alles macht sehr nachdenklich – und zutiefst dankbar beim Blick ins eigene Bücherregal.
Dass Kriminalromane in allen orientalischen Länder überhaupt nicht gefragt sind und es das Genre in arabischer Sprache im Prinzip nicht gibt. Auch das hat gesellschaftliche Gründe: Ohne einen funktionierenden Rechtsstaat macht die Aufklärung von Mordfällen schlicht keinen Sinn.
Bachtyar Alis spontane und erste Antwort auf die Frage, warum er nach Deutschland geflohen sei: „Dafür gibt es viele Gründe. Aber hauptsächlich bin ich gekommen, um in Ruhe lesen zu können.“
Genau diesen. Der erste Essay im Buch ist so stark in seiner Analyse des irakischen Diktators Saddam Hussein, seines hämischen Lachens im Augenblick des eigenen Todes, aber auch der Angst vor dem Lachen, die alle Diktatoren eint.
… natürlich die Romane von Bachtyar Ali, zum Beispiel Die Stadt der weißen Musiker und Perwanas Abend.
… es das macht, was gute Bücher tun sollten: Es öffnet eine neue Welt, indem es einen klugen, fundierten und sehr vielschichtigen Blick auf den Orient wirft und so die Augen öffnet für ganz neue Perspektiven, weil es dazu einlädt, einen neuen Blick auf die Länder und Menschen des Orients zu wagen und dabei eigene festgefahrene Bilder und (Vor-)Urteile zu hinterfragen. Das alles fächert Bachtyar Ali auf nur 144 Seiten auf. Zutiefst beeindruckend!
Das Buch:
Bachtyar Ali – Das Lächeln des Diktators
Aus dem Kurdischen (Sorani) von Ute Cantera-Lang und Rawezh Salim
Unionsverlag
Zürich 2022
144 Seiten