Magazin

Kolumne

Yin und Yang im Rheinland

Illustration zweier Figuren, die miteinander sprechen, eine davon mit einem Fragezeichen über dem Kopf.
© Nadine Redlich

Christian Bartel über rätselhafte rheinische Rentnerfragen.

– von Christian Bartel

Bildrechte: © Nadine Redlich

Hier schreiben im Wechsel Christian Bartel, Juliana Kálnay und Melanie Raabe über Sätze, die ihnen hängengeblieben sind.

„Fieromp?!“, rief mein sehr alter Nachbar, wann immer ich meine Wohnung verließ oder zu ihr zurückkehrte. Ich war gerade in ein rheinisches Dorf gezogen und wohnte der günstigen Miete wegen in einer alten Metzgerei. Die ebenfalls betagte Vermieterin wohnte im Haus hinter dem Ladenanbau und bestand darauf, dass ich das große Schaufenster regelmäßig putzte. Ansonsten ließ sie mich in Ruhe und war ziemlich schwerhörig. Wenn wir uns bei den Mülltonnen trafen, grüßten wir uns. Der Gruß meiner Vermieterin war allerdings ebenso rätselhaft wie der meines Nachbarn. „Na, fleißig?“, wollte sie immer wissen. Ich bejahte stets, auch wenn es selten stimmte. Meine Vermieterin nickte, wischte die Hände an ihrer Kittelschürze ab und wandte sich ab. Überzeugt wirkte sie allerdings nie. Ohnehin taten sich die Leute im Ort schwer mit mir.



Ich glaube, sie gaben mir die Schuld, dass sie ihren Metzger verloren hatten. Manchmal bekam ich Bestellungen in den Briefkasten, allerdings ließen sich handgeschriebene Kundenwünsche wie „Schweinekrause“ oder „Fette Ente“ auch als Beleidigungen interpretieren. Jedenfalls war ich froh, dass ich zumindest mit einem Nachbarn auf guten Fuß stand, auch wenn ich nicht wusste, was der Alte mit „Fieromp?!“ ausdrücken wollte. An der Stimmhebung war zu erkennen, dass es sich auch hier um eine Frage handelte. „Aber immer doch!“, rief ich, um nicht unhöflich zu erscheinen. Dann räusperte sich Herr Schmitz zufrieden, vielleicht handelte es sich aber auch um einen Wortbeitrag. Der Mann war sehr schwer zu verstehen, weil er sein Gebiss nur sonntags trug. Es war ein schönes Gebiss, aber die perfekt kalifornischen Zahnreihen passten weder zu dem altersfleckigen Gesicht noch zu seinen gelb gerauchten Vorhängen. Wie die Edamer-Katze verschwand Herr Schmitz sonntags hinter seiner Dentalverblendung, er schwebte dann still als körperloses, grellweißes Grinsen im Halbdunkel seiner Wohnung.

„ Wie die Edamer-Katze verschwand Herr Schmitz sonntags hinter seiner Dentalverblendung, er schwebte dann still als körperloses, grellweißes Grinsen im Halbdunkel seiner Wohnung. “

Unter der Woche spuckte der Zahnlose hanebüchenen Dialekt aus, ein knarziges Alt-Ripuarisch, so undurchdringlich und vorsintflutlich wie die Sumpfwälder an den verschwundenen Altarmen des Rheins. Ich verstand ihn jedenfalls nicht. Eines Tages traf ich meinen Nachbarn im Supermarkt an der Ecke. Er stand vor mir an der Kasse und prokelte umständlich seinen Altmännereinkauf aus dem Korb. Eine Dose Hühnersuppe, zwei kleine Flaschen Weinbrand und sechs Blister Dosenmilch. Dann bellte er der Kassiererin Lautbrocken entgegen. Zu meinem großen Erstaunen antwortete sie sofort: „Nä, Herr Schmitz. Brot brauchen'se bestimmt nicht. Haben Sie ja erst vorgestern gekauft.“



Herr Schmitz stieß eine röchelndes Lachen aus und patschte sich gegen die Stirn. Das verstand sogar ich. Die Kassiererin packte die Einkäufe in eine Perlontasche, die er ihr entgegenhielt, dann schlurfte der Alte dem Ausgang entgegen. Doch bevor er den Laden verließ, drehte er sich noch einmal um. „Fieromp?!“, rief Herr Schmitz der Dame an der Kasse zu und sein Hutzelgesicht erhellte sich erwartungsfroh. „Nä, bis acht muss ich noch“, antwortete die Kassiererin.



Damit war das Rätsel gelöst. Herr Schmitz fragte täglich ab, ob ich bereits in den selig machenden Zustands des Feierabends übergegangen war. Offenbar verstand er den Arbeitsschluss als einzig naturgemäßen Zustand des Menschen, denn er stellte die Frage auch morgens um neun. Das beeindruckte mich sehr, denn seine gebeugte Gestalt ließ erahnen, dass der alte Schmitz sich keineswegs immer auf der arbeitsfreien Seite des Lebens herumgedrückt hatte.



Um meinem Nachbarn eine Freude zu machen, fing ich an, auch ihn mit einer Frage zu begrüßen. Ein passende Floskel hatte ich schon. „Na, fleißig?!“, fragte ich. „Nä, Fieromp!“, pölkte es triumphierend aus dem stolzen Rentner heraus. Nach einer Weile begann ich meiner Vermieterin ebenso zu antworten. Sie strahlte beglückt, als ich ihr eines Morgens „Nä, Fieromp!“ auf ihre ewig gleiche Fleißfrage ins Ohr brüllte. Dass ich so einer war, hatte sie sich ja gleich gedacht.

Christian Bartel wohnt immer noch im Rheinland. Aus der Metzgerei ist er jedoch längst ausgezogen, wenn es sie denn je gegeben hat. Auf seinen ausgedehnten Lockdownspaziergängen ist dem Autor nämlich aufgefallen, dass fast sämtliche Häuser, in denen er mal gewohnt hat, mittlerweile abgerissen wurden. Er kann jetzt also viel behaupten.